Begrifflichkeiten und mögliche Definitionen von "Reality
TV"
Wie im ersten Teil schon gezeigt werden konnte, waren die Einführung des dualen
Rundfunksystems und die wachsende Kommerzialisierung der Fernsehlandschaft für die
kontinuierliche Weiterentwicklung der verschiedenen und vielseitigen Programmformen
und Fernsehgattungen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung
entscheidend. Mit diesem fortschreitenden Wandel geht eine Bildung immer neuer Genres
und Subgenres, sowie auch eine Veränderung deren Begrifflichkeiten und Definitionen
einher. Das ist vor allem beim Genre "Reality TV" [Realitätsfernsehen] prominent der
Fall.
Ein Charakteristikum unserer Zeit ist die in der Bildung neuer Sendeformen
allgegenwärtige Tendenz zur "Hybridisierung". Mit dem Begriff "Hybridisierung" ist die
Vermischung verschiedener Gattungen und Genres gemeint, d.h. den neu entstehenden
Sendungen ist gemeinsam, dass sie Elemente mehrerer Genres und Gattungen verbinden
und keine klaren Grenzen mehr aufweisen. Aus diesem Grund liegt es nahe, dass es eine
eindeutige und allgemeingültige Definition von "Reality TV" nicht geben kann, da sie
wegen der stetigen Weiterentwicklung der Se 24524u2012y ndekonzepte stetig widerlegt und über den
Haufen geworfen würde. "Reality TV" zeichnet sich durch verschiedene Merkmale aus,
die an den Neukreationen überprüft werden können.
Zuerst gehen wir auf einzelne Ansätze des "Reality TV" ein, anschliessend befassen wir
uns vor dem Hintergrund der Postmoderne mit den möglichen gemeinsamen Merkmalen
des Genres. Schliesslich wird auf das Subgenre "Real Life Soap" ein Auge geworfen, das
seine fulminante Einführung mit der Sendung "Big Brother" feierte.
4.1 Einzelne Ansätze zur Erklärung von Programmformen bzw.
Fernsehgattungen
Als erstes werden im Medium Fernsehen die verschiedenen Ansätze zur Definition der
Begriffe "Programmformen", auch "Fernsehgattungen" genannt, behandelt. Die formalen
Unterscheidungen zwischen den verschieden gearteten Fernsehsendungen erleichtern eine
Genreeingrenzung der neuen Sendeformate (vgl. Lücke 2002: 14).
In der Film- und Fernsehwissenschaft hat sich kein vergleichbares System zur
Unterscheidung verschiedener Gattungen bzw. Programmformen durchgesetzt, da die
kontinuierliche Weiterentwicklung des Mediums ein dynamisches Gattungs- und
Formverständnis notwendig macht. Beispielsweise kursieren in den 90er Jahren ca. 2500
unterschiedliche Begriffe zur Einordnung von Sendungen, von denen ein Zuschauer
durchschnittlich 50 Begriffe für unterschiedliche Sendearten nennen kann. Diese Zahlen
bestätigen, dass es keinen einheitlichen Sprachgebrauch für Fernsehgattungen gibt (vgl.
Lücke 2002: 14ff.).
4.1.1 Einteilung der Programmformen in Funktionen
Schmidt und Weischenberg (1994) sehen drei Funktionen der Programmformen und
nennen sie "Medienschemata". Sie machen sie anhand der Aufgaben der folgenden, am
Fernsehprogramm beteiligten Parteien fest (vgl. Lücke 2002: 14):
1. Die Mediennutzer bewerten, erkennen und ordnen Medienangebote ein.
2. Die Produzenten von Medienangeboten stellen Medienschemata zur Verfügung.
3. Die Sendeleiter Regisseure und Kameraleute brauchen solche Schemata bzw.
ihre Namen, um solche erwartungsgerecht herstellen und klassifizieren zu können.
4.1.2 Einteilung von Fernsehgattungen
In Verbindung mit dem Wirklichkeitsbezug teilt Schaffner im Jahr 2000 die
Fernsehgattungen nach ihrem Gegenstand ein und unterscheidet dabei (vgl. Lücke 2002:
dokumentarische Gattungen
(informationelle Genres wie Nachrichten, Kommentare, Diskussionen, Magazine,
Reportagen, etc.)
nonfiktionale, "dokumentarische" Unterhaltung
(Spiele, Shows, Talkshows, Aussenübertragungen, etc.)
fiktionale Unterhaltung
(Spielfilme, Fernsehfilme, Serien, Trickfilme, Bühnenstücke)
4.1.2 "Natürliche" Gattungsklassifikation
Rusch (1994) geht von einem rezipientenorientierten Ansatz aus und befragte die
Zuschauer, wie sie die verschiedenen Fernsehgattungen benennen würden. Im Folgenden
werden einzelne Ergebnisse aufgeführt, wie "News", "History", "Technical TV-Formats",
"Music", "Game Show", etc. Rusch findet, dass diese Bezeichnungen von den
verschiedenen Programmformen eine "natürliche" Gattungsklassifikation darstellten (vgl.
Lücke 2002: 15).
4.1.4 Grundformen der Fernsehnarration
Vier Programmformen, die Formen des Zeigens, des Berichtens, des Erzählens, und die
Formen des Spiels (Siehe Abbildung 1) werden von Bleicher (1999) festgehalten, die sie
als "Grundformen der Fernsehnarration" bezeichnet (vgl. Lücke 2002: 16f.). Dabei ordnet
sie den vier formal gewählten Programmformen unterschiedliche Genres zu, die sich
wiederum in Subgenres unterteilen und sich vor allem inhaltlich differenzieren.
Abbildung 1: Die vier Grundformen der Fernsehnarration:
Quizsendungen, Game Shows, Sportübertragungen,
Beziehungsshows, Musikshows, Fernsehshows,
Comedyshows,...
Formen des Spiels -Fernsehshows
Melodram, Doku-Drama, Thriller
Formal: Serie mit abgeschlossenen Einzelfolgen (Series),
Langzeitserie (Serials)
Inhaltlich:
-dialogorientiert (Soap Opera, Familienserie
-handlungsorientiert (Krimi, Western, SciFi)
Daytime Talk, Prime Time Talk und Late Night Talk
-Fernsehspiel
-Fernsehfilm
-Serie
- Talkshow
Formen des
Erzählens
Politische Nachrichtenmagazine, v. Zeitschriften,
Boulevard-, Natur-, Wissenschafts-, Freizeit- und Reise-,
Kultur-, Ratgeber, Frauen-, Mittags-, Frühstücksmagazine
etc...
Personengebundene Darstellung, Doku Soaps,
Dokumentarfilm, Feature
-Nachrichten
-Magazin
-Fernsehdokumentarismus
Formen des
Berichtens
-Live - Übertragungen
-(Live-) Reportagen
Formen des
Zeigens
Programmformen Genres Subgenres
Abb.1: Lücke 2002
"Dabei ist besonders interessant, dass Neuentwicklungen von Sendungen sich
nicht nur innerhalb eines Gattungsschemas bewegen, sondern z.T. bewusst von
bekannten Mustern abweichen oder unterschiedliche Genres kombinieren.
Diese lassen sich schwer in ein bereits existierendes Schema einordnen.
Bleicher [...] erwähnt als Beispiel ,Reality TV', das als ,thematische
Spezialisierung Formen des Fernsehdokumentarismus mit den Formen des
Fernsehspiels' verbinde" (Lücke 2002: 18).
4.2 Einzelne Ansätze zur Erklärung von "Reality TV"
Das von Lücke herangeführte Zitat Bleichers schlägt eine Brücke von der
Definitionsproblematik der verschiedenen Fernsehgattungen zur gleichgearteten
Schwierigkeit, "Reality TV" begrifflich festzulegen und dafür eine allgemeingültige
Definition zu erlangen. Nachfolgend werden verschiedene Erklärungsversuche für das
Phänomen "Reality TV" vorgestellt.
4.2.1 Darstellungsformen von "Reality TV"
Das Institut für Medienanalyse und Gestalterkennung, auch IMAGE genannt, ordnete 1993
folgende Darstellungsformen dem Begriff "Reality TV" zu (vgl. Lücke 2002: 33):
Filmdokumente: zufällige und vorgeplante Echtaufnahmen ungewöhnlicher
Ereignisse, aber auch mit versteckter Kamera gedrehte Dokumentaraufnahmen.
Hier wäre als Beispiel "Augenzeugen Video" oder "Verstehen Sie Spass" zu
nennen.
Dokumentationsdramen: von den Sendern produzierte, wirklichkeitsgetreu
nachgespielte Realgeschehnisse.
Sendungen wie "Aktenzeichen XY... ungelöst" oder "Notruf" würden hier
dazugezählt werden.
Reality-Shows: Talk-, Psychodrama- und Action-Shows, in denen Realkonflikte
der Zuschauer dargestellt und teilweise zu einer Lösung gebracht werden sollen.
Dazu gehören Sendungen wie "Arabella", "Fliege", "Die Alm", "Expedition
Robinson" und "Fear Factor" unter vielen anderen, die zwischenzeitlich wie Pilze
aus dem Boden schiessen.
Suchsendungen: Programmformen, bei denen die Fernsehtechnik selbst zur
Lösung eines Sozialproblems angeboten wird.
Zu diesem Kriterium passen die Fernsehformate "Bitte melde Dich" und
"Vermisst".
4.2.2 Generierung des Nervenkitzels
Besonders der Nervenkitzel wird vom ARD-Forschungsdienst (1993) bei ihren
Untersuchungen hervorgehoben, der nach Lücke nicht von allen Wissenschaftlern und
Forschern akzeptiert wird:
"[...] es [ist/P.V.] allerdings schwierig, Reality TV als Genre eindeutig zu
definieren. Nachgestellte Rettungsszenen werden ebenso darunter gefasst wie
Amateurvideos von Kriminalfällen und Katastrophen, Live-Berichterstattung
aus dem Gerichtssaal oder manchmal auch Versöhnungsshows. [...] [Es/P.V.]
scheint daher naheliegender, im Zusammenhang mit Reality TV von
Programmformen zu sprechen, bei denen reale Ereignisse dazu benutzt
werden, eine möglichst hohe Aufmerksamkeit des Zuschauers zu erzielen, ihm
einen Nervenkitzel zu verschaffen" (vgl. Lücke 2002: 34).
Der Mensch braucht sich nicht mehr als Jäger und Sammler zu betätigen, hat
demnach mehr Zeit zur Verfügung. Er versucht sich, nach getaner Arbeit entweder
die fehlende Spannung medial zu holen, oder seine nicht mehr vorhandenen
Emotionen an den vom Medium Fernsehen bereitgestellten, künstlich erzeugten
Emotionen zu überprüfen (vgl. 3.2.2).
4.2.3 Enge Definition von "Reality TV"
Claudia Wegener liefert 1994 eine erste umfangreiche wissenschaftliche Publikation zum
Thema "Reality TV" und arbeitet eine enge Definition von "Reality TV" heraus:
"Sie leistet anfangs eine Genreeingrenzung des ,Reality TV', die durch
Interviews mit mehreren Redakteuren und Moderatoren aus ,Reality' -
Sendungen unterstützt werden. Anschliessend beschreibt sie einige
gemeinsame Charakteristika wie Emotionalisierung, Personalisierung,
Dramatisierung/Darstellung von Gewalt und Stereotypisierung und führt eine
Inhaltsanalyse [...] durch" (vgl. Lücke 2002: 34).
Sie legt folgende Merkmale für "Reality TV" fest:
1. Realereignisse werden entweder wirklichkeitsgetreu nachgestellt oder durch
originales Filmmaterial dokumentiert.
2. Die Ereignisse haben in erster Linie keinen (oder nur selten) unmittelbaren Bezug zu
aktuellen, gesellschaftlich-relevanten Themen.
3. Die Ereignisse zeigen im wesentlichen Personen, die entweder psychische und /oder
physische Gewalt ausüben und/oder erleiden.
4. Die einzelnen Beiträge thematisieren verschiedene Ereignisse, die in keinem
unmittelbaren Zusammenhang miteinander stehen.
An Wegeners Ansatz ist jedoch problematisch, dass sie sich nur auf das gewaltzentrierte
"Reality TV" konzentriert, wie u.a. "Aktenzeichen XY... ungelöst", "Notruf", "Spurlos",
"Bitte melde Dich".
4.2.4 Narratives und performatives Realitätsfernsehen
Eine deutliche Entwicklung und Veränderung des Begriffs "Reality TV" lässt sich seit den
90er Jahren feststellen. Das feste Gattungsschema wird durch neue Sendekonzepte
durcheinander gebracht. Ein Lösungsvorschlag ist, die Sendungen in "narratives" und
"performatives Realitätsfernsehen" einzuteilen (vgl. Lücke 2002: 48). Unter "narrativem
Realitätsfernsehen" verstehen wir das erzählende, auf einem Skript basierende
Realitätsfernsehen. Mit "performativem Reality TV" sind nach Mikos Formate gemeint, in
denen "wirkliche" Menschen auftreten, die in einem vom Fernsehen arrangierten Setting
handeln müssen (vgl. Mikos et al. 2000b: 55).
4.2.5 Affektfernsehen und intime Formate
Andere Fernsehwissenschaftler spannen einen grösseren Bogen um verschiedene Formate,
deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass Intimität und Emotionen eine grosse Rolle
spielen: Zwei Schlagwörter hierzu sind "Affektfernsehen" und "intime Formate" (Lücke
2002: 48). Beispiele hierzu wären u.a. "Nur die Liebe zählt", "Traumhochzeit".
An dieser Stelle lässt sich das kollektive Erleben von Emotionen erwähnen. Die
Schamgrenzen werden aufgehoben (vgl. Wiegerling 2002: 68). Gefühle werden medial in
Szene gesetzt, deren man sich im nicht-medialen, nächsten Umfeld schämen würde. Man
getraut sich im Fernsehen dem Objekt der Begierde, die heimliche Liebe zu gestehen. Die
Fernsehanstalt hilft dabei, mit der Angebeteten in Kontakt zu treten, bei der man sich im
Alltag nicht gewagt hätte, die zart gehegten Gefühle zu offenbaren (vgl. 3.5.2).
4.2.6 Vielfältiges "Reality TV"
Stephanie Lücke vertritt die These, dass "Reality TV" heute vielfältiger sei, als zu Beginn
der 90er Jahre. In ihrer Arbeit versucht sie zu beweisen, dass die "Real Life Soap" ein
Subgenre des "Reality TV" darstellt. Im Folgenden wird ihre These vorgestellt:
"Die verschiedenen Spielarten des ,Reality TV', die seine Subgenres bilden,
lassen sich am besten in Form eines Schaubilds verdeutlichen. In dem
Schaubild werden zusätzlich Sendeformen angeordnet, die im Laufe der Zeit
Elemente des ,Reality TV' übernommen haben, ausserdem wird deutlich
gemacht, zu welchen Fernsehgattungen die einzelnen Subgenres
Verbindungen aufweisen" (Lücke 2002: 50f.).
Abbildung 2: Spielarten des "Reality TV"
Infotainment-)
Magazine
Nachrichten
Doku-Dramen
Einfluss auf...
Verwandtschaft
mit anderen
Gattungen/Genres
Talkshow Game Show Dokumentation
Fernsehshow Soap Opera Comedy
Reality TV
Narratives
Reality TV
Performatives Reality TV
Gewaltzentriertes RTV
Notruf, Aktenzeichen XY,...
Real Life Comedy
D. dümmsten Verbr.d. Welt
Problemlösungssendungen
Wie bitte?
Beziehungs-Game Shows
Herzblatt
Beziehungsshwos
Nur die Liebe zählt
Gerichts - TV
Streit um 3, B.Salesch
Real Life Soaps
Big Brother, Musicstar ?
Daily Talks
Arabella, Fliege
Abb. 2: Lücke 2002
Acht Subgenres des "Reality TV" sind dargestellt. Die "Real Life Comedy" und das
"gewaltzentrierte Reality TV" werden dem narrativen Realitätsfernsehen zugeordnet.
"Gerichts-TV", "Beziehungsshows", "Beziehungs-Game-Shows", "Daily Talks",
"Problemlösungssendungen" und die "Real Life Soaps" werden als Formen des
performativen Realitätsfernsehen angesehen. Wichtig dabei ist, dass diese acht genannten
Unterformen des "Reality TV" in einer (möglichen) partnerschaftlichen,
freundschaftlichen oder familiären "Beziehung" zueinander stehen können. Die
Zugehörigkeit zu anderen Genres wird dabei nicht ausgeschlossen (vgl. Lücke 2002: 50f.).
Das Fliessende und das sich ständig Verändernde wird bedacht und die neu entstehenden
Formate und deren möglichen Ausprägungen werden mitberücksichtigt.
4.3 Gemeinsamkeiten der Subgenres des "Reality TV"
Es sind gemeinsame Charakteristika der Darstellung auszumachen, an denen die
Sendungen des "Reality TV" erkennbar werden. Im Folgenden werden diese Merkmale
näher vorgestellt.
4.3.1 Nicht-Prominenz
Nicht-Prominente als Akteure sind wohl das prägnanteste Merkmal am "Reality TV". Was
den Zuschauer dabei reizt, ist die Möglichkeit, einen Menschen "wie du und ich" zu sehen
und den Protagonisten bei der Bewältigung von Problemen zu beobachten. Dieses
Charakteristikum des "Nichtprominentseins" ist aber nicht mehr das herausragende
Merkmal, wie es von Lücke betont wird (vgl. Lücke 2002: 53). Wie vorgängig besprochen
(vgl. 3.2.2) findet eine Zertrümmerung der Aura statt, in deren Folge ein Starkult nicht
mehr möglich ist, und die einzige Möglichkeit Kapital zu gewinnen, eine völlige
Demontage des "Stars" in aller Öffentlichkeit ist. Man denke an die "Comeback Show" in
der sich einst berühmte Musiker oder die sogenannten "perfekten Fernsehfiguren" (Lücke
2002: 53), wie Chris Norman oder Haddaway u.a. freiwillig in eine Fernsehsendung
begeben, um in einem Gesangs-Wettbewerb gegeneinander anzutreten, von einer Jury
abgekanzelt zu werden und um die Gunst des Studio- und Bildschirmpublikums zu
gewinnen, um als Sieger die Möglichkeit zu erhalten, ein Comeback zu starten, dessen
Erfolg von vornherein fraglich scheint. Weitere Beispiele sind auch "Die Alm" oder "Ich
bin ein Star - Holt mich hier raus!". Beim letzterwähnten schwingt der Sarkasmus
gegenüber dem Wort "Star" und seiner Bedeutung bereits schon mit und ist Programm...
4.3.2 Personalisierung
Mit der Personalisierung möchte der Fernsehmacher erreichen, dass der Zuschauer eine
Beziehung gegenüber dem Protagonisten aufbaut; sei diese nun positiv oder negativ. Durch
intime, private Details des Protagonisten, der diese mit seinen echten Gefühlen und
Gebärden vermittelt, wird der Eindruck von Authentizität, der Echtheit des Gezeigten
vermittelt und dadurch seine Glaubwürdigkeit verstärkt. Der Anschein von Echtheit und
die Illusion einer face-to-face-Beziehung zwischen dem Zuschauer und dem Protagonisten
wird aufrechterhalten und vorgetäuscht. Der Zuschauer identifiziert sich mit dem
Protagonisten und projiziert sein ich-schwaches Selbst in die gattungsgleiche "perfekte
Fernsehfigur"(vgl. 3.2.5 und 3.2.6). Das Erleben findet nicht mehr in der realen Welt statt.
Der Zuschauer konsumiert "imitiertes Erleben" in Formen von pseudoauthentischen
"Reality"- Formaten. Die Grenzen zwischen dem realen und medialen Erleben sind
aufgehoben (vgl. 3.3.4). Das Merkmal der Personalisierung ist in fast allen Subgenres
festzustellen (vgl. Lücke 2000: 54).
"Es kann somit festgehalten werden, dass Personalisierung, die Möglichkeit
der parasozialen Beziehung, des Vergleichs mit den unprominenten
Protagonisten und die Chance des Eingreifens in den Fortgang einer Sendung
durch Interaktion wesentliche Elemente des ,Reality TV' sind und einen
Anreiz zum Zuschauen bilden" (Lücke 2002: 54).
4.3.3 Emotionalisierung
Emotionalisierung meint das Wecken von Emotionen. Man setzt dazu stilistische Mittel
ein wie spannungssteigernde Musik, Grossaufnahmen des Protagonisten in
Gefühlsmomenten, Zeitlupen-Wiederholung von dramatischen Momenten oder die
Fragetechnik des Moderators, um emotionale Situationen zu steigern. Beim Zuschauer soll
vor allem Mitleid, Mitgefühl und geteilte Freude, Wut oder sogar Schadenfreude
hervorgerufen werden (vgl. Lücke 2002: 55). Auch diese Emotionen werden zunehmend
medial gelebt. Durch die ständige Bombardierung mit neuen Informationen werden die
Sinne ausgereizt und stumpfen mehr und mehr ab. Das Wecken von Emotionen stellt ein
Kontrastprogramm zur eigenen Abstumpfung dar. An den medial vermittelten, künstlichen
Emotionen überprüft der Zuschauer seine eigene Unmöglichkeit, Gefühle erleben und
empfinden zu können. Sinnigerweise haben aber diese Retorten-Gefühle nichts mit
wirklichen Gefühlen zu tun (vgl. 3.2.2).
4.3.4 Intimisierung
Die Intimisierung kommt vor allem im performativen Realitätsfernsehen vor. Alles, was
früher im privaten Lebensbereich lag, wie persönliche Probleme und zwischenmenschliche
Beziehungen, wird zum öffentlichen Thema gemacht (vgl. Lücke 2002: 55, zit. nach
Bente/Fromm 1997: 20). Der Zuschauer kann am Dargestellten seine eigene
Lebensauffassung überprüfen und gegebenenfalls revidieren (vgl. Lücke 2002: 55, zit.
nach Bente/Fromm 1997: 62). Das hängt mit der sozialen Mobilität zusammen, welche die
geordneten Bahnen der Lebenswege durcheinander wirbelt (vgl. 3.4.1) und die
Möglichkeit zur Selbstverwirklichung in die Orientierungslosigkeit münden lässt. "Die
Bereitschaft der Zuschauer, sich in die Lebensgeschichten anderer einzufühlen, ergibt sich
aus der Ungewissheit der eigenen Zukunft in der Gesellschaft, die Normalbiographien
immer weniger bereithält" (Plake 1999: 125). Die gezeigten Lebensgeschichten und -lagen
anderer sollen dabei eine Orientierungshilfe leisten, um das eigene Leben zu bestreiten.
"Durch Sendungen des performativen Realitätsfernsehens wird die
Möglichkeit hierzu gegeben, und zwar für alle Alterstufen - von
Heranwachsenden, die sich am Verhalten der Teilnehmer bei ,Big Brother'
orientieren können, bis hin zum Stammpublikum bei ,Fliege', das zu 54% aus
über 64-jährigen besteht" (Lücke 2002: 55, zit. nach Weiss 1999: 26).
4.3.5 Stereotypisierung
Ein weiteres Kennzeichen im "Reality TV" ist die Stereotypisierung der Handlung und der
Protagonisten. Die Fernsehmacher sind gezwungen, ihre Geschichten in kurzer Zeit zu
erzählen. Aus diesem Grund müssen sie komplexe Zusammenhänge und Details
reduzieren. Auch eine differenzierte Charakterentwicklung und Persönlichkeitsdarstellung
ist dadurch nicht möglich. Der Zwang, in kürzester Zeit alles Relevante zu zeigen, führt
aber zu Klischees, stereotypen Darstellungsmustern und standardisierten
Handlungsmustern (vgl. Lücke 2002: 56). Hochgradig problematisch erweist sich die
Tatsache, dass die Menschen ihr Selbst zunehmend medial bilden. Dabei werden aber über
die Medien nur noch Stereotypen sichtbar gemacht. Der Zuschauer hat also nur die Wahl,
sich unter Stereotypen einen herauszupicken. Die Möglichkeit eines dreidimensionalen
Individuums wird ihm medial verunmöglicht. Und da er nur dieses klischierte Angebot
konsumieren kann, liegt einmal mehr der Schluss nahe, dass der Mensch mehr und mehr
zu einem Gattungswesen im Sinne von Horkheimer und Adorno (2002: 154) verkümmert
(vgl. 3.2.6). Die Demokratie und das Wahlrecht durch den medial geprägten Menschen
würde dadurch in Frage gestellt und gefährdet. Wir hoffen, dass die Zeit uns vom
Gegenteil überzeugen wird.
4.3.6 Dramatisierung
Ereignisse werden dramatisch und reisserisch dargestellt. "Dramatik wird beispielsweise
durch den Einsatz der ,Living Camera' erzeugt, ebenso durch spannungsteigernde Musik,
schelle Schnitte, überraschende Szenenwechsel.[...] Dramatisch dargestellt werden
[beispielsweise/P.V] auch Konflikte in Beziehungsshows oder Real Life Soaps - jeder
Streit im "Big Brother"- Haus wird ausführlich dokumentiert und der Öffentlichkeit
präsentiert" (Lücke 2002: 56, 57).
4.3.7 Live - Charakter
Die Fernsehmacher versuchen, dem Zuschauer eine Live-Inszenierung vorzutäuschen. Ein
Life-Effekt wird angestrebt (vgl. Lücke 2002: 57). Wenn zum Beispiel Arabella Kiesbauer
zu einem Reporter geschaltet wird, der die Leute auf der Strasse nach ihrer Meinung zu
einem Thema befragt, haben wir und das Studiopublikum das Gefühl, die Feedbacks der
Leute gerade jetzt in diesem Moment, also live, zu sehen und zu hören. Es könnte sich aber
auch um eine Einspielung handeln, d.h. dass diese Situation schon eine gewisse Zeit vorher
aufgezeichnet worden ist.
4.3.8 Vermischung von Fiktion - Realität und Vermischung von Information -
Unterhaltung
Früher waren Information (Nachrichten, die seriös, objektiv und sachlich sein müssen) und
Unterhaltung (Shows, die emotional, fiktiv und subjektiv sind) durch die
Aktualitätsdifferenz klar von einander zu unterschieden. Dabei bildet die Aktualität das
Kriterium für den Wert der Nachrichtensendungen, die hingegen bei den
Unterhaltungssendungen kein "Muss" ist (vgl. Walitsch 1995: 27). Diese früheren klaren
Unterscheidungen sind heute hinfällig geworden. Es gibt keine Grenzen mehr und wenn es
sie noch geben sollte, wären sie fliessend und verwischt. Eine Folge davon wäre die
Vermischung von der früher nur realen Information und der früher nur fiktiven
Unterhaltung. Man denke an das Stichwort "Infotainment", welches "Information" und
"Entertainment" miteinander vermischt und einer aktuellen, knallharten Nachricht
unterhaltende Elemente beimischt, um sie dem Zuschauer leichter zugänglich und
verträglicher zu machen. Die Unterscheidung zwischen realen und fiktiven Ereignissen
fällt dadurch nicht leicht. Auch die Differenzierung von hoher und niedriger Qualität wird
dabei erschwert und hinfällig (vgl. 3.1.4). Subgenres des "Reality TV" sind alle dem
nonfiktionalen Bereich des Fernsehens zuzuordnen, aber fiktionale Elemente fliessen
meistens in die Darstellung hinein. Wichtig ist auch zu bemerken, dass "Reality TV" für
sich beansprucht, sein Publikum mit Informationen zu versorgen, ihm zur Orientierung zu
dienen und zu dessen Individualisierung beitragen zu wollen (vgl. Lücke 2002: 57 ff.).
4.3.9 Authentizität und Inszenierung
Das letzte gemeinsame Merkmal ist das Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und
Inszenierung. Authentisch sollen beim "Reality TV" die von den Akteuren selbst
geschilderten und gefühlten wahren Geschichten wirken. Die Emotionen und die Handlung
an und für sich sind also authentisch und üben bei deren Betrachtung den sogenannten
"Authentizitätseffekt" aus. Diese Geschichten werden nun aber in eine "mehr oder
weniger" feste Dramaturgie eingebunden, die vom Fernsehmacher bestimmt und inszeniert
wird. Auch greift der Produzent manchmal in das Geschehen ein, wenn beispielsweise eine
Situation nachgestellt werden soll oder wenn der Fernsehmacher den Protagonisten
Diskussionsthemen liefert. Die Diskrepanz zwischen Authentizität und Inszenierung wird
dabei offenkundig (vgl. Lücke 2002: 60f.).
4.4 "Real Life Soaps": "Reality Soap" versus "Docu Soap"
Die Bezeichnung "Real Life Soap" verdeutlicht, worum es geht: um die Darstellung des
"wirklichen Lebens" mit dramaturgischen Mitteln, die denen einer "Soap" ähnlich sind.
Ausprägungen von "Real Life Soaps" sind "Docu Soaps" - formal eine Mischform von
Dokumentation (vgl. Lücke 2002: 99f.) (speziell die Reportage) und Serie (-
Beispielsweise "Die Fussbroichs", "Abnehmen in Essen") und "Reality Soaps". Letztere
sind eine Weiterentwicklung von der "Docu Soap" und weisen keine gängige Definition
auf (vgl. Lücke 2002: 100f.). Ein Beispiel dieser Ausprägung ist die Sendung "Big
Brother", das Merkmale der "Soap Opera" und der verhaltensorientierten Spielshow
beinhaltet. Eine Unterscheidung der verschiedenen Subgenres ist dennoch möglich. Bei
"Docu Soaps" kommt das Kamerateam zum Menschen "wie du und ich" und dokumentiert
den "normalen" Menschen in seinem alltäglichen Lebens- und Arbeitsumfeld (vgl. Lücke
2002: 62 f.). Davon gibt es drei Typen, die entweder um einen bestimmten Ort kreisen
spezielle Personen in den Mittelpunkt stellen oder aber ausser dem ein spezielles Thema
zum Inhalt haben (vgl. Lücke 2002: 100) Im Fall der "Reality Soap" begibt sich der
Mensch zum Kamerateam und in ein speziell arrangiertes, künstliches soziales Setting
(vgl. Lücke 2002: 62 f.). "Big Brother" stellt dabei den Prototypen des neuen Subgenres
"Reality Soap" dar (vgl. Lücke 2002:138).
4.4 Schlussfolgerung
In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass es verschiedene Versuche gibt, das
Phänomen "Reality TV" begrifflich festzumachen und zu erhellen. Kein anderes Genre ist
einer derart rasanten Weiterentwicklung und stetigen Veränderung ausgesetzt. Einmal
gesetzte Definitionen werden durch neuartige Sendekonzepte fortlaufend relativiert. Eine
allgemeingültige Definition, die für "Reality TV" Bestand hätte, kannn es aus diesem
Grunde nicht geben. "Reality"- Sendungen weisen gemeinsame Charakteristika auf. Bei
der Bildung neuer Sendeformen ist der Trend der "Hybridisierung" überall festzustellen.
"Grenzenlosigkeit" und der "Alles ist möglich"- Gedanke innerhalb der Genres werden
also in Zukunft auf den Bannern der Macher geschrieben stehen. Gespannt harren wir der
Dinge, die da kommen...
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