Das Beispiel "Big Brother"
"Big Brother" ist das Paradebeispiel für das
moderne "Reality TV".
nun als "Reality Soap", "Real Life Show", "Real People Show" oder als wie auch immer
bezeichnen will - "Big Brother" hat als erstes und am deutlichsten gezeigt, dass solche
Shows Konjunktur haben. Nicht die gut aussehenden und verwöhnten "Yuppie-
Kandidaten" à la Herzblatt, nicht das gekünstelte Show- und Promileben und nicht das
Vorführen von extremen und schrägen Zeitgenossen der "daily talks" - nein, Hilfestellung
für die Bewältigung des eigenen banalen Alltags erhält man dadurch, dass man anderen bei
der Bewältigung ihres banalen (wenn auch inszenierten) Alltags zuschaut (vgl. Beyer
Im folgenden Teil wird zunächst der Erfolg, welcher nicht zu letzt der Ausnützung von
selbstreferenziellen Mechanismen zu verdanken ist, den "Big Brother" mit seiner ersten
Staffel verzeichnete, beschrieben. Danach wird ein Blick auf die Spieleanordnung mit
ihren wichtigsten Elementen geworfen. Weiter wird versucht, zu einer Definition von "Big
Brother" zu gelangen, anhand der vorhergehenden Zuweisung zu den verschiedenen
Genres und Formaten, welchen "Big Brother" als "Hybridgenre" (Mikos et al. 2000b: 208)
angehört.
In einem nächsten Schritt wird der Alltag, den die "Big Brother"- Kandidaten im Haus
verleben, unter die Lupe genommen. Ziel ist es aufzuzeigen, was zur Inszenierung dieses
Alltags gehört und welche Elemente selbigen tatsächlich dem "wahren", realen Alltag
"draussen" entsprechen. Dieser Authentizitätseffekt, der durch verschiedene Elemente
hervorgerufen werden kann, wird im darauffolgenden Abschnitt in ein
Spannungsverhältnis mit dem Inszenierungsaspekt gestellt. Hierzu soll insbesondere auf
die Aspekte der Inszenierung und der Authentizität bezüglich der Kandidaten eingegangen
werden.
Was macht aber nun den Reiz von "Big Brother" aus? Wie lässt sich dieser erklären?
Warum schaut man sich diese Sendung an? Auf diese Fragen sollen als nächstes
Antworten gefunden werden, um die Faszination, die "Big Brother" bei so vielen
Zeitgenossen ausübt, erklären zu können. Weiter wird auf die Motive der Teilnehmer von
"Big Brother" eingegang 252g612c en, um Antworten auf die Frage geben zu können, warum sich
Menschen partout freiwillig einem solchen Medienexperiment unterziehen wollen.
Als letztes wird noch kurz auf das Novum eingegangen, dass "Big Brother" als erstes
Fernsehformat seinen Ursprung nicht mehr in der Fernsehgeschichte hat, sondern im
Internet (vgl. Schanze 2000: 6).
5.1 Das Medienereignis "Big Brother"
Die erste Staffel von "Big Brother" war das "Medienereignis" (Gangloff 2001: 80) des
Jahres 2000. Die Botschaft für die Zielgruppe lautete nach Orwells Vorbild: ",Big Brother
- Du bist nicht allein" (Heberling 2001: 53).
Keine andere Fernsehsendung hat in den letzten Jahren ein solches Aufsehen erregt wie
"Big Brother", das täglich vom 1. März bis zum 9. Juni 2000 auf dem privatkommerziellen
Sender RTL2 ausgestrahlt wurde. Der Sender landete mit dem Format
einen "Quotencoup". Gleich zu Beginn wurde in der werberelevanten Zielgruppe der 14-
bis 49-jährigen ein Marktanteil von um die 20 Prozent erreicht, von den 14- bis 29-jährigen
gar zwischen 30 und 40 Prozent. Die Zuschauer schalteten ein, um das (vermeintlich)
faszinierende Leben der Bewohner im aufgestellten Container in der Nähe von Hürth bei
Köln zu verfolgen (vgl. Mikos et al. 2000b: 7).
Doch das neue Sendeformat verbreitete auch Unbehagen. Vertreter von Politik, Kirchen
und anderen gesellschaftlichen Organisationen kritisierten "Big Brother" bereits Wochen
vor Beginn der Sendung am 1. März scharf und wollten die Sendung sogar verbieten
lassen. Neben dem Vorwurf des "gnadenlosen Voyeurismus" (Frotscher 2000: 337) war
von "Menschenversuch" oder "Menschenexperiment" (Mikos et al. 2000b: 7), wie sich der
rheinlad-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) ausdrückte und vom Verstoss
gegen die Menschenwürde die Rede (vgl. Frotscher 2000: 333). Innenminister Otto Schily
sah Paragraph 1 des (deutschen) Grundgesetzes verletzt, welcher besagt, dass die Würde
des Menschen unantastbar sei. Dem Einwand, die zehn Probanden im Kölner Container
hätten sich aus freien Stücken auf das Experiment eingelassen, entgegneten Schily und
Co., dass die Menschenwürde unveräusserlich sei und Verletzungen der Menschenwürde
auch dann gegeben seien, wenn die derart Verletzten subjektiv gar keine Verletzung sähen.
Die Veranstalter der Sendung antworteten mit Gutachten, welche besagten, dass juristisch
ein Verstoss gegen die Menschenwürde nicht festzustellen sei - so stand folglich der
Ausstrahlung von "Big Brother" nichts mehr im Wege (vgl. Gangloff 2001: 80).
Doch genau diese Kritik im Vorfeld sorgte für den kostenlosen und beachtlichen
Werbeeffekt, der von RTL2 geschickt genutzt wurde (vgl. Andorfer 2001: 240).
"Big Brother" wurde nicht nur dank seiner Konvergenz von Internet und Fernsehen,
sondern vor allem durch seine Merchandising-Artikel zu einem der bekanntesten
"Markenartikel" des deutschen Fernsehens. Schon bald nach Beginn der ersten
Ausstrahlung gab es eine wöchentliche Zeitschrift, das "Big Brother"- Magazin, eine Fan-
Kollektion, die vom T-Shirt, übers Baseball-Cap bis hin zum "Big Brother"- Kondom
reichte. Ab der zweiten Staffel wurde die Kollektion noch ergänzt durch weitere Artikel
wie Socken, Bettwäsche usw. Ausserdem landeten die "Big Brother"- Stars und Stars rund
um "Big Brother" etliche Top-Ten- und Nummer-Eins-Hits. Der Song "Leb!", der
deutschen HipHop-Gruppe "Die dritte Generation" wurde nicht nur zur
Erkennungsmelodie der Sendung, sondern auch zum Verkaufsschlager bei jungen
Musikkonsumenten. Den Erfolg krönend, verkaufte sich der Song des am 9. April 2000
aus der "bekanntesten Fernseh-WG Deutschlands" (Eigenwerbung des Senders)
ausgeschiedenen Zlatko Trpkovskis, "Ich vermiss dich (wie die Hölle)", binnen weniger
Tage mehr als 500'000 Mal. Genauso rasant wurde "Big Brother" zum Thema auf anderen
Fernsehsendern und in anderen Fernsehsendungen wie z.B. in "TV Total" auf PRO7 oder
in "Stern TV" auf RTL. "Big Brother" wurde aber auch in unzähligen Printartikeln
erwähnt und zum Thema von Alltagsgesprächen (vgl. Mikos et al. 2000b: 8). Diese
gezielte Ausnutzung der selbstreferenziellen Mechanismen (vgl. 2.7) ist unter anderem
wesentlich für den Erfolg von "Big Brother" verantwortlich, denn in der heutigen Zeit, in
der die Konkurrenz unter den Medien um die Aufmerksamkeit des Rezipienten immer
härter wird, ist diese Ausnutzung von selbstreferenziellen Mechanismen eine wichtige
Voraussetzung für den Erfolg auf dem Markt geworden (Mathes/Möller/Hissnauer 2001:
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zuschauer und die Werbewirtschaft " ,Big
Brother' überdurchschnittlich stark angenommen und honoriert [haben/G.B.]" (Heberling
2001: 61). Die Erfolgsgeschichte der ersten Staffel von "Big Brother" lässt sich auch so
beschreiben: "Von der moralischen Entrüstung zum Kult-Event"
(Mathes/Möller/Hissnauer 2001: 63).
5.2 Das "Spiel" "Big Brother"
"Big Brother" wurde von der niederländischen Produktionsfirma "Endemol" entwickelt
und lief in Holland vom 16. September bis zum 30. Dezember 1999 auf dem Sender
"Veronica", der damit extrem hohe Einschaltquoten und Marktanteile von bis zu 60
Prozent erreichte (vgl. Mikos et al. 2000b: 14).
Im Folgenden soll die Spieleanordnung des Formats "Big Brother" beschrieben werden.
Hierzu muss allerdings gesagt werden, dass es sich um die ursprüngliche Anordnung der
ersten Staffel handelt; die weiteren Staffeln zwei bis fünf, welche zur Zeit auf RTL2
ausgestrahlt wird, wurden leicht bis stark abgeändert.
Bei "Big Brother" befinden sich zehn Personen, davon fünf Frauen und fünf Männer,
während rund 100 Tagen in einem Haus bzw. Wohncontainer, in dem sie ununterbrochen
von 28 Kameras beobachtet und von 47 im Haus installierten Mikrophonen und
zusätzlichen Körpermikrofonen, welche sie nur nachts und zum Duschen abnehmen
dürfen, belauscht werden.
"Big Brother" umfasst eine Reihe von Spielregeln, die kurz zusammengefasst so aussehen:
Die Bewohner haben sich vorher noch nie getroffen, leben nach dem Motto "Back to the
Basics", also ohne Luxus, ihnen ist jeder Kontakt zur Aussenwelt untersagt, sie dürfen aber
das Haus jederzeit freiwillig verlassen. Weiter müssen sie alle zwei Wochen zwei
Bewohner nominieren, worauf das Publikum die Möglichkeit hat, einen dieser zwei
Spielteilnehmer in der darauf folgenden Woche per telefonischer Abstimmung
abzuwählen, um dadurch am Schluss eine Siegerin oder einen Sieger zu bestimmen (vgl.
Dahinden 2002: 343), der am Ende 250.000 DM erhält (In der aktuellen Staffel, die ein
Jahr dauert: eine Million Euro). Die Kandidaten bekommen zusätzlich Tages- und
Wochenaufgaben. Je nach erbrachter Leistung erfolgen Belohnungen in Form von
erhöhtem Haushaltsgeld oder Dingen, die die Bewohner sich wünschen (vgl. Mikos et al.
2000b: 15)
Aus dem aufgezeichneten Material des Tages entsteht dann eine 45- bis 50-minütige
Zusammenfassung, die am nächsten Tag um 20 Uhr ausgestrahlt wird. Am Ende der
Woche gibt es eine Wochenzusammenfassung und der einstündige "Big Brother"- Talk.
Dort wird mit Experten Prominenten, Freunden etc. der Kandidaten gesprochen.
Ausserdem werden hier die Nominierungen sowie die Ergebnisse der
Zuschauerabstimmungen bekannt gegeben. Daneben gibt es den Internetauftritt. Auf der
Homepage kann das Geschehen im Haus live, aber kostenpflichtig, über Kameras jederzeit
verfolgt werden. Ausserdem werden News aus dem Haus als Videoclip sowie als
Textmeldung angeboten, man hat die Gelegenheit, Hintergrund-Infos zu den einzelnen
Bewohnern abzurufen, über die Beliebtheit der Bewohner abzustimmen, Artikel aus dem
Fanshop zu ordern, oder man kann sich im Chatroom mit Gleichgesinnten austauschen.
(vgl. Mikos et al. 2000b: 15f.). Ganz zum Zeitalter des Mobilfunks passend kommt heute
noch der "sms-alert" und der "mms-newsletter" hinzu, über welche man sich die News
direkt aufs Handy senden lassen kann, selbstverständlich kostenpflichtig. "Big Brother"
hat folglich einen "bimedialen Charakter" (Schwer/Lukaszewski 2002: 311), welcher eine
der Besonderheiten des Formats ausmacht.
5.3 Genre und Format "Big Brother"
In den Fernseh-Programmzeitschriften wird die Sendung "Big Brother" als "Real-Life-
Soap" beschrieben (vgl. Mikos et al. 2000b: 28). Für das Genre von "Big Brother" werden
ausserdem weitere Bezeichnungen wie z.B. "Real Life Show" (Kübler 2000: 11), "Real
People Show" (Hohlfeld 2000: 195), "Real Life Docu-Soap"(Gangloff 2001: 81) oder
"Reality-Soap-Talk-Game-Event" (Schanze 2000: 6) verwendet.
Es existiert also keine klare Genrezuweisung für die Sendung "Big Brother". Auch eine
Definition des Formats zu finden, erweist sich als eher schwierig, da "Big Brother" eine
Mischung aus unterschiedlichen Genreelementen aus verschiedenen Medien ist. Das
Format "Big Brother" orientiert sich einerseits an Vorbildern aus dem Internet und
Fernsehen, vor allem an Unterhaltungssendungen, als auch an der Alltagswirklichkeit von
Menschen. Aus diesen greift es ausgewählte Elemente auf, um sie in den Zusammenhang
einer Spielshow zu stellen. Schliesslich wird ein "soziales Setting" inszeniert, in dem die
Kandidaten handeln und sich dabei von Kameras beobachten lassen (vgl. Mikos et al.
2000b: 24).
"Big Brother" ist ein "Hybridgenre" (Mikos et al. 2000b: 208), (vgl. hierzu auch 2.5, 4).
"Big Brother" kann zunächst als verhaltens- und persönlichkeitsorientierte Spielshow
bezeichnet werden (vgl. Mikos al. 2000b: 25f.). Die neue Qualität von "Big Brother" ergibt
sich nun daraus, dass das Spiel nicht nach 60, 90 oder 120 Minuten zu Ende ist, sondern
100 Tage andauert. Aufgrund dessen kann man von "Big Brother" als einer Extremshow
sprechen. Eine weitere neue Qualität für eine Spielshow besteht darin, dass die Kandidaten
24 Stunden am Tag von Kameras beobachtet werden. Gesendet wird täglich aber nur eine
45-minütige Zusammenfassung des ganzen Materials des vorangegangenen Tages.
Folglich findet eine "dramatische und dramaturgische Bearbeitung" des "Rohmaterials"
statt. "Hier nimmt ,Big Brother' in der Gestaltung Elemente von Familienserien und Daily
Soaps auf, die sich auf Grund der zu Grunde liegenden Struktur des Spiels als Docusoap
darstellt" (Mikos et al. 2000b: 27). Ausserdem ist "Big Brother" eine partizipative Show,
bei der die Zuschauer in das Geschehen eingreifen können, indem sie zwischen einem der
nominierten Kandidaten per Telefon entscheiden, wer das Haus verlassen muss. Die
wöchentlich ausgestrahlte Sendung ",Big Brother' - der Talk" kann zum Talk-showformat
gezählt werden, im Sinne der abendlichen Talkrunden. Wie bereits erwähnt, wird in den
Fernseh-Programmzeitschriften die Sendung "Big Brother" mit dem Begriff "Real-Life-
Soap" angekündigt, welcher jedoch nicht ganz treffend ist. Denn es handelt sich bei dem,
was in der Sendung gezeigt wird, nicht um das wirkliche Leben der Kandidaten in ihrem
realen Alltag, sondern um ein inszeniertes und man könnte sagen "nachgestelltes
Container-Leben". Die Sendung kann auch nicht als "Docusoap" bezeichnet werden,
"denn hier wird kein reales, sondern ein bereits für ein Spiel inszeniertes Leben gezeigt,
keine soziale Wirklichkeit, sondern eine fürs Fernsehen inszenierte Wirklichkeit" (Mikos
et al. 2000b: 28).
Auf dieser Erkenntnis basierend, definiert Lothar Mikos das Format sehr allumfassend
folgendermassen:
"Das Format Big Brother ist eine nach den Darstellungsweisen und der
Dramaturgie von Soap Operas inszenierte verhaltens- und
persönlichkeitsorientierte Spielshow, die auf der Echtheits-Inszenierung des Spiels
Big Brother basiert. Im Rahmen des Spiels Big Brother finden weitere Spiele,
gewissermassen als Spiele im Spiel statt. In diesem Sinn ist es keine Docu- oder
Real-Life-Soap, sondern ein um die Inszenierung von Authentizität bemühtes auf
die Alltagswelt von Zuschauern und Kandidaten Bezug nehmendes Format, das
zum performativen Realitätsfernsehen gezählt werden kann" (Mikos et al. 2000b:
55/Hervorheb. i. O.).
Den Begriff des "performativen Realitätsfernsehens" (vgl. 4.2.4) prägte die Soziologin
Angela Keppler. Nochmals: In Shows und Sendungen, die zum performativen
Realitätsfernsehen gezählt werden, werden die Kandidaten "in eine Situation gebracht, die
zur Ausstrahlung im Medium inszeniert wird. In dieser Situation müssen sie nun mit
anderen Kandidaten gemeinsam handeln" (Mikos et al. 2000b: 37).
5.4 Der inszenierte Alltag
Wer "Big Brother" sah, musste zu dem Schluss gelangen, dass das wahre Leben langweilig
ist. Ob man jetzt die Bewohner beim Essen, beim Schlafen oder beim Trainieren ihres
Bizeps zusah, es zeigte sich stets, dass Authentizität und Sensation unvereinbar sind (vgl.
Wiegandt 2000: 203). Da der ganz normale Alltag also meist nicht den dramaturgischen
Anforderungen des Mediums Fernsehen entspricht, muss er inszenatorisch aufbereitet
werden, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu erreichen und somit um erfolgreich zu
sein (vgl. Bleicher 2000: 205).
So stellten beispielsweise die Wahl der Kandidaten, die Szenenwahl oder die
Kameraperspektive Elemente der Inszenierung dar (vgl. Wiegandt 2000: 196). Auch
weitere Eingriffe der Redaktion waren nötig, wenn doch einmal die Quote sank. Dann
wurde z.B. die Regel gebrochen, dass kein Kontakt zur Aussenwelt erfolgen dürfe, indem
das Medientalent Verona Feldbusch zeitlich begrenzt ins Haus einzog (vgl. Hohlfeld 2000:
202). Oder auch die lebensfrohe Dachdeckerin Sabrina, die nach dem freiwilligen Auszug
von Kerstin nachfolgte und den Gegenpart zu Publikumsliebling Jürgen übernahm, mit
dem sie mit Vorliebe fast pausenlos schäkerte, ist ein notwendiges Mittel der Dramaturgie
und der Inszenierung gewesen etc.(vgl. Hohlfeld 2000: 202).
Der Alltag im "Big Brother"- Haus weist gewiss zahlreiche Parallelen zum sozialen Alltag
der Kandidaten auf, beispielsweise müssen sie genauso essen, schlafen etc., jedoch gibt es
auch bedeutende Unterschiede in wesentlichen Dingen: Während der soziale, reale Alltag
von dem zyklischen Wechsel von Arbeit, Freizeit und Reproduktion bestimmt wird,
entfällt der Faktor "Arbeit" bei "Big Brother". Statt dessen müssen die Kandidaten Tagesund
Wochenaufgaben bewältigen, von denen ihr Wochenbudget abhängt. Diese Aufgaben
gelten zwar als Spiele, korrespondieren jedoch in ihrer Funktion für das Leben im
Container der Arbeit "draussen". Werden die Aufgaben nicht oder nur teilweise gelöst,
fällt auch das Wochenbudget dementsprechend niedrig aus. Entsprechend der sozialen
Realität: keine Arbeit, kein Geld. Allerdings haben die jeweiligen Aufgaben aufgrund ihres
spielerischen Charakters auch einiges mit gewissen Freizeitaktivitäten gemein, was
teilweise auch daran zu erkennen war, dass einige Bewohner die Erledigung der ihnen
auferlegten und für die Zeit im Container "überlebenswichtigen" Aufgaben nicht immer
mit dem nötigen Ernst ausgeführt hatten (vgl. Mikos 2002: 36f.). Das Leben im "Big
Brother"- Haus kann also als eine "Simulation von Alltäglichkeit ,ausserhalb des Alltags'"
angesehen werden (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2002: 170).
Was den Zufallsgrad der Ereignisse betrifft, die jeweils ausgestrahlt wurden, kann sicher
gesagt werden, dass wohl nichts von dem, was aus dem "Big Brother"- Haus herausdrang,
wirklich zufällig passierte. Jede Einstellung ist sorgfältig ausgewählt worden unter der
Massgabe des "Ereignis-Charakters" (vgl. Hohlfeld 2000: 203). Im "Big Brother"-
Container leben die Bewohner einen Alltag, der nicht der ihre ist, sondern einen Alltag, der
den Inszenierungsregeln des Spiels und der Dramaturgie der Regie folgt. Jedoch ist dieser
inszenierte Alltag für die Zeit, die die Kandidaten im Haus verbringen gleichwohl ihr
Alltag, denn sie leben ihn als "selbständig handelnde Subjekte, die an einem inszenierten
Spiel teilnehmen" (Mikos et al. 2000b: 29). Zu hinterfragen ist an dieser Stelle, ob in der
postmodernen Gesellschaft nicht auch das Leben in unserer sozialen Wirklichkeit ein
inszeniertes Leben ist, das einem Spiel gleichkommt, ob nicht die Grenze zwischen der
(vermeintlich) nicht-inszenierten, sozialen und die der inszenierten, medialen Wirklichkeit
langsam aber sicher verschwimmt...
Zugestanden werden kann die Tatsache, dass es im Haus oft durchaus zugeht wie im
richtigen Leben, doch ist es nicht das richtige Leben. Dieser Tatsache sind sich sowohl die
Kandidaten als auch die Zuschauer bewusst (vgl. Mikos et al. 2000b: 39).
5.5 Inszenierung versus Authentizität
Allgemein kann angeführt werden, dass die Ausrichtung an der Alltagswirklichkeit und der
Intention, die Kandidaten in einem Alltag zu beobachten, der in einem inszenierten
sozialen Setting stattfindet, "Big Brother" einen grossen Authentizitätseffekt vermittelt
(vgl. Mikos et al. 2000b: 24). Der Zuschauer ist sich gewöhnlich im klaren, dass nicht nur
das Setting, sondern auch das Verhalten der Kandidaten inszeniert ist, dass sie eine
idealisierte Version ihrer selbst produzieren, die ihnen Erfolg verspricht (vgl. Willems
Menschliche Interaktion hat aber nicht nur im "Big Brother"- Container viel mit
Inszenierung zu tun; immer, wenn Menschen interagieren, spielen sie eine bestimmte
Rolle. Sie dient dazu, die Wahrnehmung und Behandlung durch andere zu beeinflussen,
indem die inszenierende Person anderen ein bestimmtes "Bild" ihrer selbst zu vermitteln
versucht (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2002: 168).
Aufgrund der Tatsache, dass die Kandidaten die ganze Zeit gefilmt werden, aber nicht
wissen können, welche Ausschnitte ausgestrahlt werden, inszenieren sich die Kandidaten
vermutlich mehr, als im "Leben draussen". Man kann hier auch von einem gewissen
"Zwang zur Selbstdarstellung" sprechen, ja, man muss nämlich Imagepflege betreiben. Im
Falle der "Big Brother"- Bewohner müssen sie Imagepflege bei den Mitbewohnern
betreiben, um nicht nominiert und bei den Zuschauern, um im Falle einer Nomination nicht
hinausgewählt zu werden. Die Schwierigkeit der Imagepflege besteht darin, dass man sie
verbergen muss, man will schliesslich "authentisch" wirken. (vgl. Willems 2000: 28).
Die Einführungsvideos der Kandidaten, die in der Auftaktsendung den Zuschauern gezeigt
wurden, belegen auch, dass den Kandidaten schon vor ihrem Einzug ein bestimmtes Image
verliehen wurde. Da es sich aber bei den Bewohnern des "Big Brother"- Containers nicht
um Schauspieler handelt, die diese Images bewusst festigen und verkörpern sollen und
auch können, sondern um "echte Menschen", kann es doch zu Authentizitätseffekten
kommen; dies wenn die "PR-Images" nicht mit der tatsächlichen Darstellung der
Kandidaten im Haus übereinstimmen. Als Beispiel kann hier die Bewohnerin Jana
angeführt werden, die unter dem Image "Sexpertin mit den Liebeskugeln und den Waffen
der Frau" ins Haus einzog, dann aber eher brav wirkte (vgl. Mikos et al. 2000b: 115f.).
Die Imagepflege kann unter dem Stichwort "Stereotypisierung" angeführt werden (vgl.
Neben den zugewiesenen Images und der Imagepflege kann aber andererseits von
häufigeren Momenten unwillkürlicher Darstellung ausgegangen werden, die zweifelsohne
authentisch sind (vgl. Mikos et al. 2000b: 115). Unwillkürliche Darstellungen sind
beispielsweise Konflikte zwischen den Bewohnern oder Emotionen, wie z.B. Johns Tränen
bei einem Streit. Eine hohe Wahrscheinlichkeit bezüglich authentischer Darstellung
kommt vor allem auch Handlungen zu, die aus dem alltäglichen Leben bekannt sind wie
Kochen, Essen, Körperpflege etc (vgl. Mikos et al. 2000b: 117f.).
Ellrich meint ferner, dass sich nach einiger Zeit im Haus ein Gewöhnungseffekt einsetze,
die Masken der Subjekte fielen und sie ihre Rollen nicht mehr aufrechterhalten könnten
und sich zeigten, wie sie im "wirklichen Leben" seien (vgl. Ellrich 2000: 100). Hitzler und
Pfadenhauer weisen darauf hin, dass aber trotz der Gewöhnungsprozesse eine erhöhte
Selbst- und Fremdaufmerksamkeit bestehe und somit ein erhöhtes
Inszenierungsbewusstsein, da sich die Kandidaten der Präsenz der Kameras doch immer
bewusst seien (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2002: 170). Des weiteren darf die Tatsache nicht
ausser acht gelassen werden, dass diese unwillkürlichen Momente von der Regie "zerstört"
und verfälscht werden können und in der Folge nicht mehr authentisch sind. Da ja die
Bild- und Tonaufnahmen datentechnisch aufgezeichnet werden, sind sie jederzeit abrufbar
und können in verschiedenen Zusammenhängen gezeigt werden, d.h. sie sind manipulativ
bearbeitbar. So wurde beispielsweise die Ehrlichkeit einer Kandidatin der zweiten Staffel
dadurch in Frage gestellt, dass eine "aktuelle" Aufzeichnung, die sie "beim Austausch von
Zärtlichkeiten" mit einem Mitbewohner zeigen, mit einer einige Tage vorher erstellten
Aufzeichnung "verschnitten" wurde, in der sie ihrem Freund "draussen" ihre Liebe und
Treue schwört (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2002: 166).
Stäheli ist der Ansicht, dass sich der Authentizitätseffekt des "Big Brother"- Hauses
anhand der "Innen/Aussen-Unterscheidung" organisiert. Er vertritt die Meinung, dass man
im Haus authentischer sein könne als im "wahren" Leben, dass erst durch die Isolation der
Versuchsanordnung das "wahre Ich" zum Vorschein komme, da dieses im Leben
"draussen" durch Zwänge des Alltags, der Familie und des Berufslebens verzerrt würde.
Wenn man sich von den Fesseln bestehender sozialer Kontakte löse, stosse man auf das,
was das Individuum ausmache; dies werde ermöglicht durch die Versuchsanordnung von
"Big Brother". Die unbeschränkte Zeit, der Zwang, zu kommunizieren, die dauernde
Beobachtung und die anfängliche "Ungesellschaftigkeit", wenn Fremde zusammentreffen,
beschrieben "die grundlegende Ausstattung der Authentizitätsmaschine ,Big
Brother'"(Stäheli 2000: 74). Stäheli folgert daraus, dass die Kandidaten gezwungen seien,
sich selbst zu sein, ob sie wollten oder nicht (vgl. Stäheli 2000: 73f.). Diese Meinung
können wir nur teilweise teilen. Die neue Situation im "Big Brother"- Container liefert
zwar neue Möglichkeiten "zu sein", jedoch können die Kandidaten im Haus einerseits
(eine) ihre(r) Rollen spielen und zeigen somit nicht ihr "wahres Ich", andererseits
entstehen im Hause wieder neue Zwänge, welche die Kandidaten daran hindern, ihr
"wahres Ich" zum Vorschein kommen zu lassen. Die Zwänge im Haus sind denen
"draussen" nicht unähnlich. Sie ergeben sich durch die (neuen) sozialen Kontakte im Haus,
den Container-Alltag, der für die Zeit, welche die Bewohner im Haus verbringen, ihr
Alltag ist (vgl. 5.4) und durch die Tages- und Wochenaufgaben, welche, wie in 5.4
dargelegt, der Arbeit im realen Leben verwandt sind. Einzig das Element der Familie
entfällt - jedoch auch nur teilweise, da sich durch die Versuchsanordnung ihrerseits wieder
eine Gemeinschaft entwickelt, die deren der Familie, deren Bedeutung durch die soziale
Mobilität im wirklichen Leben immer mehr abnimmt, ähnlich ist.
Die Authentizität der Kandidaten belangend formuliert Mikos sehr treffend, dass sich das
Verhalten der Kandidaten im "Big Brother"- Haus "gemäss der drei potenziellen
Wirklichkeiten Show, Spiel und soziale Wirklichkeit auch in dreierlei Hinsicht betrachten
[lasse/G.B]: Sie können als Darsteller ihrer selbst, als Spieler und als Darsteller einer
Fernsehrolle, also als Kandidaten oder Mitwirkende der medialen Show oder Sendung
angesehen werden" (Mikos et al. 2000b: 114).
"Big Brother" als gesamtes betrachtend, stellt Dahinden prägnant zusammenfassend fest,
dass "Big Brother" den Anspruch erhebt, "eine vom Rahmen her inszenierte, im Kern aber
nicht-fiktionale Alltagswirklichkeit darzustellen. Der hybride Charakter dieses Formates
kann mit dem Begriff der inszenierten Authentizität beschrieben werden" (Dahinden 2002:
5.6. Rezeptionsmotive der Zuschauer
Die Sendung "Big Brother" ist nicht nur ein klassisches Beispiel für das postmoderne
Kulturverständnis, indem Orwells Albtraumszenario in ein Spassuniversum verwandelt
wird (vgl. 3), sondern dieses Format befriedigt auf der Rezipientenseite auch verschiedene
Bedürfnisse. Im Folgenden sollen die verschiedenen Rezeptionsmotive der Zuschauer
erläutert werden. Dabei werden zwischen allgemeinen Rezeptionsmotiven in einem ersten
Schritt und den spezifischen Rezeptionsmotiven für Kinder und Jugendliche bzw. für junge
Erwachsene in einem zweiten unterschieden.
5.6.1 Allgemeine Rezeptionsmotive
Als ersten Beweggrund, sich der Rezeption von "Big Brother" hinzugeben, kann das
Interesse an Intimität und Privatheit angeführt werden (vgl. Willems 2000: 32). Bei "Big
Brother" erhält man Einblicke in sonst nicht einsehbare Bereiche des privaten Alltags (vgl.
Bleicher 2000: 213). Diesen Blick "hinter die Kulissen" anderer, fremder Menschen sucht
das Publikum. Dies lässt sich einerseits durch die uns anthropologisch anhaftende Neugier
erklären, andererseits hat dieses Interesse viel mit unserer (post)modernen Gesellschaft zu
tun (vgl. Willems 2000: 32). In der heutigen modernen Gesellschaft gibt es fast keinen
Bereich mehr, der noch nicht vollständig ausgeleuchtet ist. Die Medien machen alles
sichtbar. Das Private, als Gegenstück zur Öffentlichkeit, ist (teilweise) (noch) ein
Tabubezirk, den es auszuleuchten gilt. Hinter ihm befindet sich möglicherweise
"Ungeheuerliches". Dieses gilt es, aufzuspüren, zu entdecken und aufzusaugen (vgl.
Wiegerling 2002: 68f.). Geheimes und Seltenes hat die Menschen schon immer in ihren
Bann gezogen, weil mit knappen Angeboten besondere Werte verbunden werden.
Ausserdem ist das Aussergewöhnliche an privaten und intimen Geschichten, dass "ihr
Möglichkeitsreichtum prinzipiell grenzenlos und unerschöpflich ist" (Westerbarkey 2000:
73). Und man ist umso neugieriger, je sorgsamer etwas bis anhin verborgen war (vgl.
Westerbarkey 2000: 73). "Big Brother" relativiert also die Unterscheidung von "privat"
und "öffentlich", indem das Private zum öffentlichen Ereignis wird und Öffentlichkeit
selbst privatisiert wird (vgl. Stäheli 2000: 11). Wenn das Private also öffentlich wird, kann
nicht mehr von Privatheit im ursprünglichen Sinn gesprochen werden; demnach gibt es im
"Big Brother"- Haus auch keine Privatpersonen (vgl. Wiegerling 2002: 68). Sie sind durch
die Enthüllung ihrer Privatheit ins öffentliche Interesse gerückt und somit zu öffentlichen
Personen geworden, was - ob die Kandidaten nun die Courage besitzen dies zuzugeben
oder nicht - von ihnen voll und ganz beabsichtigt war (vgl. 4.4)
Des weiteren lädt "Big Brother" offen dazu ein, Voyeur zu sein. Die auch noch so
kleinsten Dinge des Lebens im Haus können jederzeit überwacht werden (vgl. Papilloud
2000: 233). Der "Big Brother"- Voyeur bzw. allgemein der Medienvoyeur ist dabei in der
begünstigten Lage des "unbeobachteten Beobachters", für den zwar aufgeführt wird, der
aber keine Verantwortung übernehmen muss (vgl. Westerbarkey 2000: 71). Das Publikum
erfährt also affektive Nähe und hat zugleich die ständige Garantie auf unverfängliche
Distanz (vgl. Kübler 2000: 18, 19).
Ein weiterer Reiz von "Big Brother" könnte laut Willems darin liegen, dass sich jeder, der
sich die Sendung anschaut, selbst auf einer Ebene seines Lebens beobachtet. Der Rezipient
ist nicht nur Voyeur, wie ihm oft im negativen Sinne angehaftet wird, sondern einer, der
Gewinn daraus zieht, andere bei Dramen und Dramatisierungen zu beobachten, die auch
seine eigenen sein könnten. Der Zuschauer erfährt Vergnügen durch Teilnahme an
symbolischen Gewinnchancen und Gewinnen, wie an symbolischen Risiken und
Verlusten. Vergnügen kann ausserdem dadurch entstehen, dass der Zuschauer nicht nur
Zuschauer sondern auch Wähler ist und somit aktiv, nämlich "richtend", in das
Spielgeschehen eingreifen kann. Der Rezipient ist also in gewisser Hinsicht auch
Mitspieler, im Gegensatz zu den Kandidaten von "Big Brother" aber ohne Einsatz und
Risiko. Dieses aktive Eingreifen-Können bedeutet für den Zuschauer auch Macht. (vgl.
Willems 2000: 34f.).
Ausserdem liefert "Big Brother" Möglichkeiten der Identifikation. Wichtiger Aspekt, der
eine wesentliche Rolle für das Identifikationspotential darstellt, ist hierbei, dass im
Unterschied zu fiktionalen Serien wie "Marienhof", die ebenfalls Identifikation mit ihren
Darstellern hervorrufen, die "Darsteller" von "Big Brother" keine Schauspieler sind,
sondern "Jedermanns-Personen" (vgl. Willems 2000: 35). Dadurch, dass die Sendung
täglich ausgestrahlt wird, wird die Identifikation des Publikums mit den Kandidaten
begünstigt (vgl. Bleicher 2002: 56). Durch die tägliche Begegnung mit den Kandidaten
entsteht Vertrautheit mit ihnen (Stichwort "Intimisierung", vgl. 4.3.4). Die "Big Brother"-
Bewohner etablieren sich "als televisionäre Familie oder als medialer Teil des eigenen
Freundeskreises" (Bleicher 2000: 213). So können die Kandidaten von "Big Brother" gar
Familien- und Freundesersatz werden (vgl. 3.4.5). Durch diesen Bezug zu den Bewohnern
werden auch parasoziale Beziehungen aufgebaut. Diese sind Beziehungen zu "Stars",
anhand derer sich der Rezipient selbst als Star vorstellen kann, denn er hat ja grundsätzlich
dieselben Eigenschaften wie jene. Der Zuschauer kann so eine Projektionsleinwand für die
eigene Selbstverwirklichung errichten (vgl. Willems 2000: 35).
Weiter steigt der Zuschauer zum Verhaltensforscher auf. Er ist quasi ein Wissenschaftler,
der ein Experiment beobachtet: Indem er also "Big Brother" sieht, macht er etwas
bedeutendes (vgl. Bleicher 2000: 206) Speziell ist dabei, dass die Position des
Wissenschaftlers nicht mehr an die wissenschaftsspezifischen Voraussetzungen gebunden
sind, sondern "an die Faszination durch das massenmediale Experimentenspektakel"
(Stäheli 2000: 61). Nicht nur ein ausgewählter Kreis von Personen mit den entsprechenden
Bildungstiteln dürfen das Experiment beobachten, sondern jeder einzelne, der bereit dazu
ist. Die Zuschauer werden so als Alltagsexperten zu kompetenten Beobachtern (vgl.
Stäheli 2000: 76).
Ein Motiv der Rezeption macht auch die Schadenfreude aus. Auch wenn nicht jeder
Zuschauer von dem Beweggrund getrieben wird, Kandidaten scheitern zu sehen, ist die
Schadenfreude neben genannten durchaus eines der Hauptmotive der Rezeption (vgl.
Hohlfeld 2000: 200). In Sendungen wie "Die Comeback-Show" wird das vorgeführte
Scheitern Programm.
5.6.2 Rezeptionsmotive von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Um die Rezeptionsmotive der Kinder und Jugendlichen genauer zu beleuchten, stützen wir
uns auf Gruppendiskussionen mit Grundschulkindern in Norddeutschland vom Mai 2000,
auf eine repräsentative telefonische Befragung des Forschungsinstitutes Forsa, im Auftrag
des Forschungsteams um Lothar Mikos und auf zwei qualitative Gruppendiskussionen,
durchgeführt von Mikos' Team.
Gruppendiskussionen mit Grundschulkindern in Norddeutschland vom Mai 2000:
Aus den Gruppendiskussion mit den Grundschulkindern (vgl. Götz 2001a: 89), geht v.a.
hervor, dass für eine grössere Gruppe von Mädchen und eine kleinere Gruppe Jungen "Big
Brother" thematisch nicht sonderlich interessant ist, es aber in der Peer-Group "Pflicht" ist,
"Big Brother" gesehen zu haben. Die Kinder haben angefangen "Big Brother" zu schauen,
um auch mitreden zu können (vgl. Götz 2001a: 96). Es besteht folglich ein Gruppendruck
unter den Jugendlichen, sich "Big Brother" allabendlich anzusehen.
Bei "Big Brother" werden scheinbar "ganz normale" Männer und Frauen gezeigt, die
zusammen, wohl oder übel, ihren Alltag gestalten und Aufgaben zu lösen haben. Diese
Momente der Gemeinsamkeit sind es, die den Grundschulkinder gefallen und die sie
betonen. Die Kinder konnten zusehen, wie "ganz normales" Leben "authentisch" ablief,
wie (gemeinsam) Aufgaben gelöst und Konflikte bewältigt wurden. Den Bewohnern des
"Big Brother"- Containers kam die Rolle von parasozialen Freunden zu, die jeden Abend
verlässlich zu ihnen ins Wohnzimmer kamen. Die Nähe und Freundschaft ist den Kindern
also jeden Tag aufs neue garantiert. Die Kandidaten wurden nicht nur Freunde, sondern
auch Vorbilder für die Kinder (vgl. Götz 2001a: 102).
Für die Mädchen bedeutete "Big Brother" auch einfach eine Verlängerung der
allabendlichen Folge von "Gute Zeiten, schlechte Zeiten", was ihnen, wenn sie durften,
längeres Aufbleiben bescherte und die Fortsetzung des Rituals um die Daily Soap. Den
Inhalt der Sendung betreffend, betonten die Mädchen v.a. den Umgang der Bewohner
untereinander, die Harmonie im Alltag und die verschiedenen Typen von Mannsein.
Bei den Jungen war der Mittelpunkt der Gespräche v.a. das Verhalten männlichen
Kandidaten. Echt und witzig sein sind die Ideale der Jungen. Insbesondere Jürgen und
Zlatko (liebevoll auch "Sladdi" genannt), schienen Authentizität und Witz zu verkörpern.
Zlatko, der in der "Big Brother"- Gemeinschaft trotz seiner Schwächen anerkannt wird,
eröffnet den Jungen Identifikationspotential. Jürgen, der freudvolle Familienvater,
hingegen bot Fantasien eines Vorbildes, er entsprach der Vorstellung des idealen Freundes,
mit dem man Spass hat und den man verehrt (vgl. Götz 2001a: 97f.).
Die Kinder begrüssen die neuen "Stars" von "Big Brother", welche sich "weg vom
gekünstelt und ungewöhnlich Schönen" präsentieren. Es geht den Kindern nicht um die
Frage, ob etwas tatsächlich real ist, sondern darum, ob es witzig und echt ist und als
solches präsentiert wird (vgl. Götz 2001b: 143).
Die Sendung "Big Brother" ist für Kinder und Jugendliche zum Ausdruck eines
Lebensgefühls geworden. Doch nicht nur dies: "Big Brother" ermöglicht durch seine
enorme Popularität auch Gruppenbildung. Um in der Gruppe dazuzugehören, muss man
mitreden können und Bescheid wissen - nicht nur ungefähr, sondern möglichst genau und
ausführlich. Das Interesse an "Big Brother" gibt einem die Bestätigung, "in" zu sein. Die
Folgekommunikation schafft folglich Gemeinsamkeit. Über Figuren wie Zlatko oder auch
Jürgen, die bei fast allen Kindern gut ankommen, wird ein gemeinsamer "Bezugspunkt"
geschaffen. Am Beispiel der "Big Brother"- Kandidaten wird diskutiert, was "gut ist" und
was nicht, wodurch sich als positiver Effekt Integrationsmechanismen ergeben.
Gleichzeitig ergibt sich aber auch ein negativer Effekt: Die Kinder werden einem
Anpassungsdruck unterworfen (vgl. Götz 2001b: 143).
Nur an der Oberfläche betrachtet scheint "Big Brother" ein Vorbild zu sein: Es werden
durchaus fähige, junge Erwachsene, die selbstbewusst ihren Alltag unter erschwerten
Bedingungen meistern und neue, vorbildliche und erstrebenswerte Formen von Mannsein
gezeigt. Dies scheint den Kindern und Jugendlichen Orientierung und Halt zu geben.
Hintergründig wird aber Angst vor Ausgrenzung geschürt und vorhandene Angst
berechtigt, denn den Kindern wird vorgeführt, dass wer nicht gut ankommt rausfliegt (vgl.
Götz 2001a: 103).
Repräsentative telefonische Befragung:
Die Absicht der repräsentativen telefonische Befragung (1004 Befragte) bestand darin,
etwas über die Motive der "Nicht-Seher" von "Big Brother" und etwas über den Einfluss
der Internet-Nutzung bezüglich des Abstimmungsverhaltens der Zuschauer zu erfahren
(vgl. Mikos et al.2000b: 154).
Aus welchen Gründen "Big Brother" rezipiert wird, wurde in 4.6 erläutert - aus welchen
Gründen nun die Sendung nicht gesehen wird, ist ebenfalls interessant. In den
verschiedenen Altersgruppen der Befragten wurden verschiedene Unterschiede deutlich.
Die meisten Befragten derjenigen, die "selten" oder "nie" "Big Brother" sehen, 39 Prozent
der 14- 19-Jährigen, brachten das Argument hervor, dass "Big Brother" langweilig sei. Als
weiteren Grund nannten die Jugendlichen ihr grundsätzliches Desinteresse an solchen
Sendungen. Für viele Jüngere spielt es auch eine Rolle, dass sie keine Zeit für solche
Sendungen haben, aufgrund anderer Aktivitäten wie Sport, Schule und Hausaufgaben. Die
vorgetäuschte Realität ist ein weiterer Grund dafür, "Big Brother" nicht zu sehen.
Für die älteren Befragten ist der Grund, dass "Big Brother" langweilig sei, weniger
relevant. Die Befragten ab 30 Jahre nennen als wichtigsten Grund, der von jeweils zwei
Drittel der Nicht-Seher angegeben wird, dass sie sich für solche Sendungen grundsätzlich
nicht interessierten. Häufig kennen die über 30-jährigen "Big Brother" gar nicht und
können so auch nicht beurteilen, ob sie es langweilig finden oder nicht. Das Argument der
vorgetäuschten Realität wird je älter die Befragten sind umso unwichtiger (vgl. Mikos et
al. 2000b: 161), im Zeichen dafür, dass mit fortschreitender Zeit die Unterscheidung
zwischen real und irreal an Bedeutung verliert.
Auffällig ist nun v.a., dass aus den Befragungen dieser Studie und aus der
Gruppendiskussionen mit den Schulkindern hervorgeht, dass im Grunde beide Gruppen der
jugendlichen "Seher" von "Big Brother" und der jugendlichen "Nicht-Seher" die Sendung
nicht interessant finden, dass sie langweilig ist. Die "Seher" schalten jeden Abend den
Fernseher nur ein, um am nächsten Tag in der Schule mitreden zu können und nicht
ausgeschlossen zu werden, ohne eigentliches Interesse an der Sendung.
Was das Abstimmungsverhalten per Telefon und die Internet-Nutzung betrifft, zeigte sich,
dass nur 12 Prozent telefonisch über das Schicksal eines Kandidaten im Hause abstimmen,
der nominiert wurde. Aus den Gruppendiskussionen erklärt sich dies folgendermassen:
Den jüngeren Teilnehmern wurde von ihren Eltern grundsätzlich aus Kostengründen
verboten, teure "0190er Nummern" anzurufen. Ein zweites Argument gründet auf der
Annahme, dass eine einzelne Stimme sowieso nicht "zählen" würde oder wenn, das
Ergebnis nur unwesentlich beeinflussen würde.
Für den Entscheid, ob man einen Kandidaten abwählt oder nicht, zeigte sich, das im
Wesentlichen die Fernsehrealität und nicht die Live-Übertragung im Internet
ausschlaggebend für die Bewertung eines Kandidaten ist. Ausserdem spielt die
Übertragung des Geschehens im "Big Brother"- Haus über das Internet nur eine sehr kleine
Rolle für die meisten aller "Big Brother"- Seher (vgl. Mikos et al. 2000b: 162).
Gruppendiskussionen mit Jugendlichen und Studenten:
Die zwei Gruppendiskussionen wurden von Mikos' Team mit regelmässigen "Big
Brother"- Sehern durchgeführt, um nebst den quantitativen Aussagen der telefonischen
Befragung auch noch qualitative Aussagen über die Motive der Rezeption von "Big
Brother" machen zu können.
Aufgrund der Zuschauerdaten und der repräsentativen Befragung wissen wir, dass "Big
Brother" überproportional von 14- bis 19-Jährigen und 20- bis 29-Jährigen gesehen wird.
Eine Gruppendiskussion wurde mit 15-Jährigen, weiblichen "Big Brother"- Fans
(Gymnasiastinnen) und eine mit 27- bis 31-Jährigen "Big Brother"- Fans (Studenten)
durchgeführt. Die Befragten hatten sich selbst als Fan zu bezeichnen, sollten öfter als drei
mal pro Woche "Big Brother" sehen und der jeweils gleichen "Clique" angehören, um ein
Gespräch unter Freunden entstehen zu lassen. Die zwei Altersgruppen spiegeln
exemplarisch zwei "Big Brother"- Zuschauergruppen wider, von welchen "Big Brother"
überproportional gesehen wird; das sind zum einen die Teenager, zum anderen etwas ältere
Studierende.
Die Schülerinnen gaben als grundlegendes Motiv das "Mitreden können" an. Es herrscht
bei ihnen zwar kein ausdrücklicher Gruppenzwang, aber "mitreden" muss man doch
können.
Ein anderer, ausschlaggebender Grund für die "Big Brother"- Rezeption sowohl für die
Schülerinnen, als auch für die Studierenden, ist das "darüber Reden". In beiden
Gesprächen nahm die "Psychologisierung", also das Analysieren der "Big Brother"-
Teilnehmer und ihrer Beweggründe einen grossen Raum ein. Das Psychologisieren über
die Teilnehmer und das Interpretieren ihres Verhaltens scheint sowohl für die Schülerinnen
als auch für die älteren Studenten einen gewichtigen Anteil an der Faszination von für die
"Big Brother" ausmachen. Ein wesentlicher Aspekt der Nachanalyse der Sendung und der
Kandidaten und ihr Verhalten bezieht sich auch auf die Frage, wann sich die Kandidaten
real, also wie im "echten" Leben verhalten und wann sie (eine Rolle) spielen.
Mehrmals erwähnt wird der Realitätsbezug von "Big Brother". Bei beiden Diskussionen
wurde darüber debattiert, ob dieser Realitätsbezug vermeintlich oder real sei. Gerade diese
"Gratwanderung zwischen Realität und Inszenierung" macht einen weiteren Aspekt Teil
der Faszination von "Big Brother" aus. Die Fragen, was "echt" und was inszeniert sei,
liefern viel Gesprächsstoff für die Nachanalyse.
Die Schülerinnen stehen den redaktionellen Eingriffen von RTL2 nicht sonderlich
skeptisch gegenüber, im Gegenteil: Meist begrüssen sie diese Eingriffe, damit sie "etwas
zu sehen bekommen", da sie das "wirkliche Leben" für langweilig halten. Die
Schülerinnen wollen ein spannendes Programm, der Grad der Inszenierung desselben -
interessiert sie weniger. Das Spannende an "Big Brother" ist weniger das "Echte" als
vielmehr das "Unvorhersehbare". Gewiss folgt "Big Brother" der Soap-Inszenierung, ist
aber gleichzeitig nicht vorhersehbar, da es kein Drehbuch gibt, da die Darsteller keine
Schauspieler sind und man in Strukturen des "echten Lebens", des "normalen Alltags"
nicht übermässig eingreifen kann. Das fehlende Drehbuch bei "Big Brother" macht auch
seinen Reiz aus.
Sowohl die jüngeren als auch die älteren Diskussionsteilnehmer legen Wert auf die
Feststellung, dass sie sich mit keinem der "Big Brother"- Kandidaten identifizieren
können. Eine Suche nach Orientierungsvorgaben für das eigene Leben kann also hier nicht
festgestellt werden, man kann sagen, dass das Unterhaltungsmotiv dominierend ist.
Die Ergebnisse der Forschungsgruppe zeigen, dass gerade die regelmässige und häufige
Nutzung von "Big Brother" im Vordergrund steht und durch die "Inszenierungsstrategie
Soap" zustande kommt. Die "Big Brother"- Seher haben Angst, etwas verpassen, wenn sie
nicht regelmässig zusehen (vgl. Mikos et al 2000b: 163ff.).
Es bleibt die Frage, was aber letztlich den Reiz von "Big Brother" für das Publikum
ausmacht. Mikos meint dazu, dass es die Mischung zwischen den verschiedenen
Rezeptionsrahmen sei, in denen "Big Brother" betrachtet werden könne. Es hinge von den
Zuschauern ab, ob sie einen Moment der Sendung als Show, als Spiel, als Spiel im Spiel,
als Soap oder als soziale Realität definierten. "Big Brother" sei zugleich alles in einem:
Show, Spiel, Soap und soziale Wirklichkeit. Diese Rahmungen, zwischen denen das
Publikum wählen könne und die alle in einem Spannungsverhältnis zueinander stünden,
seien ein wesentliches Moment, das die Faszination von "Big Brother" ausmache (vgl.
Mikos et al. 2000b: 30). Erst durch diese Mischung der verschiedenen Rezeptionsrahmen
mache das "Über-,Big Brother'-reden" einen Sinn. Nur so könne die Nachanalyse auf dem
Schulhof, in der studentischen Gemeinschaft, am Arbeitsplatz oder in der "Kneipe" diese
Bedeutungszuweisung bekommen (vgl. Mikos et al. 2000b: 182).
5.7. Partizipationsmotive der Kandidaten
Auch wenn es bei "Big Brother" viel Geld, zumindest für den Sieger, zu gewinnen gibt,
betonen die meisten Kandidaten, dass sie nicht wegen der Gewinnsumme bei "Big
Brother" mitmachten, sondern weil für sie das Spiel eine Herausforderung darstelle und sie
auf diese Weise ihrem gewohnten Alltag für eine gewisse Zeit entfliehen könnten (vgl.
Mikos et al. 2000b: 26). Weiter beschreiben die Kandidaten von "Big Brother" auch häufig
ihre Teilnahme als eine Möglichkeit neuer Selbsterfahrungen und als Überstehen einer
ungewohnten Situation (vgl. Stäheli 2000: 69).
Nicht zuletzt erhoffen sich Teilnehmer durch ihren Auftritt im "Big Brother"- Haus grosse
öffentliche Beachtung zu erhalten und somit prominent zu werden - sei es auch nur für
kürzere Zeit. Dahinden beschreibt dies so: "Für die Teilnehmenden eröffnet die Sendung
die Chance, ohne die geringste intellektuelle, politische, wirtschaftliche, sportliche oder
künstlerische Leistung eine hohe öffentliche Beachtung zu erhalten und damit zumindest
einen kurzlebigen Prominentenstatus zu erwerben" (Dahinden 2002: 344).
Kübler spricht in diesem Zusammenhang auch von einer "Gier und Sucht", sich darstellen
zu wollen, um "wenigstens eine Ecke der Star- und Glamourwelt zu erhaschen" (Kübler
2000: 21). "Sich-zur-Schau-Stellen" und Privates öffentlich zu machen ist für viele
Menschen eine Lebensform geworden (vgl. Wiegerling 2002: 69).
Es ist nun kein Zufall, dass immer öfter und immer mehr Menschen in der heutigen Zeit in
die Medien drängen, um im Seelenleben anderer eine Rolle zu spielen (vgl. 3.5.4) und
prominent werden zu wollen. In der westlichen, finanziell relativ gesicherten Welt ist nicht
mehr das Geld, sondern die Ressource Aufmerksamkeit zum knappen Gut (vgl. 3.2.2),
welches es zu erhaschen gilt, geworden. Demnach sind Sozialstatus und Prestige
zunehmend von der Medienpräsenz abhängig.
Hinzu kommt, dass die Individuen in unserer ausdifferenzierten, pluralistischen
Gesellschaft nicht mehr zwanghaft im Rahmen fest gefügter Identitäten handeln (müssen),
sondern sie die Möglichkeit haben, aus verschiedenen Identitäten auszuwählen und diese
spielerisch einzusetzen. Die Individuen müssen sich auf dem "Identitätsmarkt" beweisen.
In der Sendung "Big Brother" erhalten sie die Möglichkeit, sich auf diesem Identitätsmarkt
zu präsentieren, um ihren "Marktwert" zu erhöhen. Das gelingt den einen Teilnehmern wie
dem Paradebeispiel Zlatko, der gar Kultstatus erreichte, besser, anderen weniger. Unter
Umständen führt die Performance auf dem Identitätsmarkt nicht nur nicht zur Erhöhung
des Marktwerts, sondern zum genauen Gegenteil. Dies ist dann der Fall, wenn die
Präsentation einer Identität vom Publikum nicht akzeptiert wird. Es kann dann zu
Ausschliessungspraktiken kommen, die sich im Falle von "Big Brother" z.B. in "Manu
raus!"-Rufen geäussert haben (vgl. Mikos et al. 2000b: 53f.).
5.8 "Big Brother" und das Internet:
"Big Brother" präsentiert sich als eine "Konvergenz von Internet und Fernsehen" (Mikos
et al. 2000b: 22). Das alltägliche, mehr oder weniger spannende und inszenierte Leben der
"Big Brother"- Kandidaten kann nicht nur allabendlich auf dem Bildschirm verfolgt
werden, sondern für speziell Neugierige auch über das Internet und erst noch in Echtzeit.
Eine Besonderheit von "Big Brother" ist es, dass es das erste Fernsehformat ist, das seinen
Ursprung nicht mehr im Fernsehen, sondern im Internet hat, genauer gesagt in der Technik
der Web-Cam. Im "Big Brother"- Container bestehen Web-Cams und Fernsehkameras
nebeneinander (vgl. Schanze 2000: 6).
Wir möchten aber nicht weiter auf das Internet eingehen, da sich bei einer qualitativen
(zwar nicht-repräsentativen Umfrage) im Netz im April 2000 gezeigt hat, dass das Internet
nur einen kleinen Teil der Rezeption ausmacht: Die meisten, die sich "Big Brother"
ansehen, tun dies im Fernsehen. Die Gründe dafür sind, dass das Internet zu teuer und
zeitraubend ist, ausserdem ist die Bildqualität sehr mangelhaft und es "passiert nicht viel".
Zu bemerken gilt aber, dass das Geschehen im Internet authentischer ist, da nichts
zusammengeschnitten wird (vgl. Mikos et al. 2000b: S 132ff.). Doch gerade das
Zusammenschneiden des Geschehens im Haus, das Herauspicken der vermeintlich
spannenden, alltäglichen, privaten und intimen Szenen bringt die Unterhaltung für die
Zuschauer, versorgt die Medienvoyeure mit ihrer Nahrung, erst dadurch, dass überhaupt
inszeniert wird, erhält "Big Brother" seine Spannung und Faszination, für die einen mehr,
für die anderen weniger.
5.9 Zusammenfassung
Das Format "Big Brother" lässt sich schliesslich folgendermassen zusammenfassen:
"Big Brother" kann als Paradebeispiel des "modernen" Reality TV gezählt werden (vgl.
2.5, 2.5.1 und 2.7). Es markiert(e) den (vorläufigen) "Höhepunkt" der Veränderungen im
TV-Programm seit der Einführung des dualen Rundfunksystems . "Big Brother" ist
Ausdruck der generellen Entwicklung von Formaten, die seit den 90er Jahren zu
beobachten ist, Ausdruck der zunehmenden lebensweltlichen Ordnung (vgl. 2.3.2) in der
Folge des Wettbewerbs von öffentlich-rechtlich und privat-kommerziellen Sender, der im
Bereich der Unterhaltung im performativen Realitätsfernsehen seinen Zenit erreichte (vgl.
Mikos et al. 2000b: 9). Insofern stellt die Sendung "Big Brother" keine neue Entwicklung
dar (vgl. Mikos et al. 2000b: 43). Neu an "Big Brother" war die Koexistenz von Web-cams
und Fernsehkameras und das "setting", also die Spielregeln. Diese hat es aber einzeln alle
schon gegeben. Einzig das "Arrangement" der Sendung war neu (vgl. Paukens 2000: 357).
"Big Brother" als Hybridgenre ist laut Mikos aber mehr als nur die Summe seiner Teile,
sondern "es kreiert etwas qualitativ Neues" (Mikos et al. 2000b: 105).
"Big Brother" kann weiter als Produkt unter dem Begriff der "Kapitalisierung der
Medienindustrie" verstanden werden (vgl. 2.2.1).
"Big Brother" lässt sich auch als "Ausgeburt der Postmoderne" mit den Werten bzw. mit
der Wertlosigkeit ihrer Spassgesellschaft betiteln. Privates, Intimes, Geheimes und
(inszenierte) Alltäglichkeit sind die Objekte der Begierde, dargestellt von
Durchschnittsmenschen ohne ersichtliches Talent oder besondere Leistung. Dem
Zuschauer als Medienvoyeur liefern sie Identifikationspotential und dienen als
Projektionsfläche für das eigene Leben und die eigenen Wünsche. Wir freuen uns, wenn
sie siegen und umso mehr, wenn sie scheitern.
Der Programmdirektor Axel Beyer von EndeMol in Deutschland meint zu "Big Brother":
"Ja, diese Gesellschaft hat genau das Fernsehen, das sie verdient" (Beyer, zit. nach Haberer
2001: 105). Wir stimmen zu...
Big Brother" ist bereits nicht mehr der Höhepunkt dieser Veränderungen, längst haben neue Sendungen
als vorläufige Höhepunkte den Weg ins Fernsehen gefunden. Z.B. Scare Tactics" (MTV), "Fear Factor"
(RTL), "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" (RTL), "Die Alm" (PRO7) etc.
6 Schluss
Die vorliegende Arbeit will das "Reality TV" von verschiedenen Blickwinkeln genauer
betrachten.
Im ersten Teil versuchten wir, die Entwicklungen im Vorfeld des "Reality TV"
chronologisch zu dokumentieren und aufzuzeigen, dass die technischen Errungenschaften,
die schliesslich in die den Mechanismen des Kapitalismus gehorchenden Dualismus der
Medienlandschaft mündeten, Voraussetzung für diese Entwicklung waren. Im Anschluss
daran dokumentierten wir die neuen Programmformen der 90er Jahre und die Wandlung zu
dem, was heute allgemein mit "Reality TV" zusammengefasst wird, bevor wir den ersten
Teil mit dem Zusammenstellen einiger Kritikpunkte und möglichen Szenarien für die
Weiterentwicklung des "Reality TV" abschlossen.
Im zweiten Teil zeigten wir auf, dass die grossen Erfindungen, sei es in der
Medienlandschaft oder allgemein, selten über Nacht geboren werden, sondern fast immer
das Ergebnis einer langen Entwicklung sind, deren Präsenz oft erst im Nachhinein
erkennbar ist. Die Frage, ob die nach der Dualisierung entstandenen Programmformen wie
das "Reality TV" zum Erfolg wurden, weil es bereits ein Bedürfnis danach gegeben hatte,
oder ob vielmehr ihre Ausstrahlung erst das Bedürfnis danach weckte, haben wir nicht
thematisiert, weil wir von einer Wechselwirkung zwischen den beiden Polen ausgehen und
uns nicht auf die "Ei-Huhn"- Problematik einlasssen wollten.
Allerdings sind wir nach Fertigstellung der Arbeit mehr denn je der Meinung, dass
das Umsetzen des kulturtheoretischen Gedankenguts der Spätmoderne und der
Entwicklung zum wertfreien ambivalenten Postmodernismus erst durch die
Dualisierung möglich wurde, die selbst wieder aufgrund des technischen Fortschritts
möglich geworden war. Vielleicht haben die neuen Fernsehanstalten also einfach
umgesetzt, was inhaltlich auf gesellschaftstheoretischer Ebene bereits vorhanden war
und dem Zeitgeist entsprach. Ob sie uns damit einen Gefallen und der Menschheit
einen Dienst erwiesen haben, bleibe dahin gestellt: letztlich hat jede Gesellschaft
genau das Programm, das es verdient.
Wir haben den Versuch unternommen zu zeigen, dass die Entwicklungen hin zum
wertfreien Fernsehen Resultate der Veränderungen in der Wahrnehmung und der
sozialen Mobilität sind, die durch die technischen Errungenschaften, welche die
Dualisierung ermöglichten, in den Medien verwirklicht werden konnten.
Ein besonderes Anliegen war uns das Aufzeigen der Wechselwirkungen zwischen
den Medieninhalten und der Entwicklung des Menschen innerhalb der zunehmend
medialeren Gesellschaft. Wir haben anhand einiger Beispiele versucht, die absehbare
Entwicklungsrichtung zu skizzieren. Die Ergebnisse, die wir anhand der
Auseinandersetzung mit Sendeformaten wie "I want a famous face" erarbeitet haben,
haben uns nachdenklich gemacht.
Im dritten Teil haben wir den Versuch unternommen, eine abschliessende Definition
von "Reality TV" durchzuführen und mussten feststellen, dass dieses Vorhaben
aufgrund der Tatsache, dass das Format einer rasanten Veränderung unterworfen ist,
nicht gelingen kann, weil sämtliche Definitionen bereits überholt sind, wenn sie zu
Papier gebracht werden. Wir trugen Erklärungsansätze für die Beliebtheit von
"Reality TV" zusammen und stellten fest, dass sie sich zum grossen Teil mit unseren
Erkenntnissen aus den kulturtheoretischen Ansätzen decken.
Im vierten Teil haben wir unser Augenmerk ganz auf "Big Brother", den wohl
berühmtesten Vertreter des "Reality TV", gerichtet und sowohl die
Rezeptionsmotive der Zuschauer als auch die Partizipationsmotive der Kandidaten
anhand von spezifischen Studien unter die Lupe genommen. Wir haben dabei
aufgezeigt, dass die im dritten Teil besprochene Ökonomie der Aufmerksamkeit
nicht nur in der Theorie von sich reden macht, sondern in der Motivation der
Teilnehmenden ganz klar als Antriebsfeder fungiert, die dem finanziellen Wohlstand
den Rang abgelaufen hat.
Ausserdem sind wir bei der Analyse von "Big Brother" zum Schluss gekommen,
dass die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum definitiv nicht mehr
existent sind. Interessant schien uns die Tatsache, dass es sich beim eindeutig
feststellbaren Unterschied zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten
Fernsehanstalten um eine der letzten klar gezeichneten Trennlinien in der
postmodernen, grenzenlosen Welt handelt, und genau der Konkurrenzkampf
zwischen diesen beiden Welten vor dem Hintergrund des Kapitalismus zunehmend
zu einer Verwischung aller anderen Grenzen führt.
|