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"ETHNISCHE GRUPPEN" UND "ARCHÄOLOGISCHE KULTUREN". IDENTITÄT UND SACHKULTUR IN DER ARCHÄOLOGISCHEN FORSCHUNG

Germana


"ETHNISCHE GRUPPEN"
UND "ARCHÄOLOGISCHE KULTUREN".
IDENTITÄT UND SACHKULTUR IN DER ARCHÄOLOGISCHEN FORSCHUNG

I



Im 18. Jahrhundert hatte man endgültig akzeptiert, daß archäologische Funde von Menschenhand stammten und nicht etwa im Boden auf natürliche Weise "wuchsen". Wenn dem so war, hatten die Bodenfunde als historische Quellen zu gelten. Sie mußten also Auskunft über vergangene Zeiten geben, aus denen keine schriftlichen Aufzeichnungen überliefert waren. Dann fragte sich, wer hatte all die Töpfe und Schmucksachen gefertigt? Welchem Volk waren sie zu verdanken - waren es Kelten, Germanen oder Slawen gewesen, die in den jeweiligen Regionen einst gesiedelt hatten?

Diese Frage nach den "alten Völkern" hat die Archäologie bis heute nicht losgelassen. "I Longobardi" (Udine, Cividale 1990), "I Celti" (Venedig 1991), "I Goti" (Mailand 1994), "Die Franken" (Mannheim, Berlin 1996/97), "Die Alamannen" (Stuttgart, Zürich 1997/98), "Die Iberer" (Bonn 1998), "Die Picener" (Frankfurt/M. 2000) oder "Gli Etruschi" (Venedig 2001) waren populäre Ausstellungen des letzten Jahrzehnts. Sie galten bekannten "Völkern" der Antike und deren "Schätzen", die sich oft als recht ähnlich erweisen. "Der Versuch, aus Gefäßscherben, verrosteten Eisenresten und kalzinierten Knochen ein vorgeschichtliches Volk zu bestimmen, stellt für einen Archäologen immer eine spannende Aufgabe und die größte Herausforderung dar."[1] Dieser Ansicht des polnischen Prähistorikers Wojciech Nowakowski lassen sich viele ähnliche Äußerungen zur Seite stellen. Zwar spricht man heute meist von "ethnischen Gruppen" und demzufolge von "ethnischer Interpretation", das Ziel jedoch blieb identisch. Nicht selten wird es zu einem zentralen Erkenntnisziel erhoben: "Die Vorgeschichte würde sich als historische Wissenschaft selber aufgeben, würde sie nicht immer und immer wieder den Versuch machen, auch das Problem der ethnischen Deutung zu lösen", formulierte Hans Jürgen Eggers (1906-1975).

II

"Moderne" Versuche ethnischer Interpretation[3] gab es bereits um 1500. Deutsche Humanisten versuchten, gegenüber Rom und der Kurie in der nationalen Zugehörigkeit ein neues Selbstwertgefühl zu gewinnen. Sie konnten sich auf antike literarische Quellen wie auf den gerade wiederentdeckten Tacitus stützen, die von germanischen Ureinwohnern (indigenae), deren altehrwürdiger Herkunft (origo) und das daraus zu folgernde hohe Alter (vetustas) und die Vortrefflichkeit (excellentia) der Germanen berichteten. Daraus ergab sich rasch die Suche nach materiellen Beweisen gegen die These, die "alten Deutschen" seien, wie die des 15./16. Jahrhunderts, "Barbaren" gewesen, als die sie von den Römern bezeichnet wurden.

Nikolaus Marschalk (ca. 1470-1525), ein in Rostock lebender Humanist, interpretierte vor diesem Hintergrund mecklenburgische Grabfunde. (Jungsteinzeitliche) Großsteingräber hielt er für herulisch (d. h. germanisch) und (bronzezeitliche) Grabhügel für abodritisch (slawisch). Die benachbarten Urnenflachgräber galten ihm als die Bestattungen der Knechte dieser germanischen und slawischen "Herren" (Abb. 1).[4] Bis in das 18. Jahrhundert blieb es bei solch vagen Vermutungen.

Im frühen 19. Jahrhundert entstand eine "vaterländische Altertumskunde". Die französische Revolution und die antinapoleonischen Befreiungskriege spielten dabei eine wichtige (und dennoch überschätzte) Rolle, ebenso aber weitreichen 14114r1712o de politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen in Europa. Engagierte Dilettanten begaben sich auf die Suche nach "ihren" Vorfahren, besonders im westlichen und östlichen Deutschland. Dort fiel die Nachbarschaft unterschiedlicher Völker durch die sie unterscheidenden Sprachen (französisch - deutsch - polnisch/tschechisch) unmittelbar auf und wurde den Zeitgenossen im Alltag bewußt. Die Schriftquellen berichteten außerdem von erheblichen Bevölkerungsverschiebungen in Antike und Mittelalter.

Im Südwesten Deutschlands stritt man darum, welche der Altertümer als germanisch, welche als römisch und welche als keltisch anzusehen wären: "Um diese Widersprüche zu versöhnen und alle Parteien zu befriedigen, entschied sich der Historische Verein von Schwaben in Neuburg dahin, daß, wegen der verschiedenen römischen Münzen und Gefäße Nordendorfs, ein Theil der dortigen Todten als Römer, ein anderer Theil, in Bezug auf die Bronzegeräthe, als keltische Ureinwohner (?) und ein dritter Theil mit Rücksicht auf die Zeitepoche, als alemannische Sieger möchten betrachtet werden können. Es scheint, daß, wenn ein slavischer Gelehrter an der Diskussion sich betheiligt hätte, auch noch für slavische Gäste unter den geduldigen Todten Raum wäre gefunden worden."[5] Die Ironie verdeckt, daß es auch den beiden Autoren sehr ernst mit ihrer Interpretation war.

Abb. 1. Der preußische König Wilhelm I. beim Besuch der Bildhauer-Werkstatt Ernst von Bandels in Hannover am 14. Juni 1869: "Der Vertreter des neu erstarkenden Deutschthums, der mächtige Feldherr Gesammtdeutschlands nahm von dem Künstler selbst den Bericht über das von einer begeisterten Nation beabsichtigte Ehrenmal dessen entgegen, dem wir es danken, daß wir überhaupt noch Deutsche sind, daß wir,
gleich Arminius' nächsten Nachkommen, in deutscher Sprache Kampf- und Siegeslieder singen können".

In Holstein, Mecklenburg und Pommern, Sachsen, Brandenburg und Schlesien lautete die entscheidende Frage: germanisch oder slawisch? Eines der zentralen Anliegen des Breslauer Archivars Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783-1829) war es, "wenn auch nicht die einzelnen Stämme, [so] doch die Hauptstämme, Deutsche und Slaven, in den Altertümern voneinander zu sondern".[6] Ein wesentliches Ziel dieser Bemühungen war es, "die Entdeckung und Untersuchung der alten Grabhügel auch in historischer Hinsicht bedeutsamer werden [zu lassen] und von Seiten derer, welchen derartige Studien und Bestrebungen bis jetzt nicht wichtig genug schienen, eher Anerkennung erwerben [zu können]". Dazu schien es notwendig, "den Muth zu fassen, das germanische vom slawischen zu trennen und den Versuch zu wagen, einen antiquarischen Gegenstand ... entweder keck als germanisch oder als slawisch zu benennen". Aber alle Bemühungen hatten wenig Erfolg - die "vaterländische Altertumskunde" blieb lange Zeit ohne große Resonanz in der breiten Öffentlichkeit. Sie war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine "Wissenschaft der Analphabeten" und ein "Arbeitsgebiet für Landpastoren und pensionierte Offiziere" .

Zwischen 1820 und 1860 waren unter den Antiquaren grundlegende methodische Fragen erörtert worden. In Skandinavien und Norddeutschland war man sich über die relative Abfolge von Stein-, Bronze- und Eisenzeit allmählich klar geworden[11] - ein entscheidender Schritt zur typologischen Methode von Oscar Montelius (1843-1921). Neben dieser "jüngere" Zeiten untersuchenden, eher kulturgeschichtlich ausgerichteten Archäologie entwickelte sich in Frankreich und England die Altsteinzeitforschung. Geologie und Biologie führten dort zu der Überzeugung, die vorgeschichtlichen Zeiträume müßten viele Jahrtausende umfassen - angesichts solch weitreichender zeitlicher Tiefe ein für nationale Fragen ungeeigneter Ansatz.

Erst in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde die Archäologie politisch relevant (Abb. 1). Große Ausgrabungsunternehmen in Griechenland, Ägypten und dem Orient wurden von den europäischen Staaten in nationaler Konkurrenz unternommen.[12] Angesichts kultur- und zivilisations­kritischer Stimmungen, von Modernisierungsverlusten und Modernitäts­zweifeln, fand das rückwärtsgewandte Ideal einer ländlich-bäuerlich geprägten Gesellschaft, die den alten Germanen ein glückliches Leben ermöglicht habe, zahlreiche Anhänger. Theodor Mommsen (1817-1903) befürchtete öffentlich, es werde wohl "bald so weit sein, daß als vollberechtigter Bürger nur derjenige gilt, der erstens seine Herstammung zurückzuführen vermag auf einen der drei Söhne des Mannus, zweitens das Evangelium so bekennt, wie der pastor collocutus es auslegt, und drittens sich ausweist als erfahren im Pflügen und Säen."[13] Gustaf Kossinna (1858-1931) bot mit seiner Fixierung auf eine angebliche "altgermanische Kulturhöhe" schließlich ein passendes Paradigma an, um das nationale Fundament in der Vorgeschichte zu gründen.

Abb. 2. Romantische Auffassung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Kultur, Volk, Sprache und "Rasse" seien jeweils homogene und nach außen scharf geschiedene, einander kongruente Totalitäten. Denkbar wäre eine solche Konstellation allenfalls in einer stark isolierten Inselsituation ohne äußere Kontakte. Für nahezu alle historisch bekannten Situationen erweist sich dieses Bild als völlig unzutreffend, denn Kulturen bzw. Gesellschaften existieren nie in der Isolation von ihren Nachbarn. Die sich daraus ergebenden Beziehungen haben unscharfe Grenzen zur Folge. Verschiedene Bereiche bzw. Ebenen des Austauschs tragen zur diffusen
  Abgrenzung bei.

Dennoch waren "nationale Fragen" auch für kritische Geister ein wichtiges Problem. Rudolf Virchow (1821-1902), Arzt, Politiker und Prähistoriker, äußerte sich über den nationalen Impetus der Prähistoriker nach der Reichsgründung: "niemand wird sich in seinen Vorstellungen über den Zusammenhang unserer Prähistorie mit anderen Kulturbewegungen frei machen können von der Betrachtung: waren unsere Vorfahren schon in der letzten Steinzeit in diesem Lande? saßen hier schon damals Germanen oder meinetwegen Slaven? ... es gibt doch kein Gemüt, das so hartgesotten wäre, daß es nicht zuletzt einigermaßen bestimmt wird von dem Gefühl der näheren Zusammengehörigkeit, in dem es mit andern Personen und in dem sein Volk mit anderen Völkern steht ... so ist es tatsächlich ein Verhältnis von äußerster Wichtigkeit für das Verständnis dessen, was menschliche Entwicklung heißt, wenn man genau feststellen kann, wie lange sich die jetzige uns geläufige Kultur an ein bestimmtes höher veranlagtes Volk knüpft und wie weit es möglich ist, dieses Volk als auf unserm Boden seßhaft anzunehmen. Das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen."

Fünfzehn Jahre später war der liberale Virchow angesichts des aufgeheizten politischen Klimas sehr viel vorsichtiger geworden: "Bei der Frage der Nationalität hört eigentlich alles regelrechte Fragen auf, sobald wir nicht mehr die Sprache, die Linguistik als Grundlage haben ... Das war unsere größte und wichtigste Aufgabe, und es hat die ganze Zeit des Jahrhunderts nicht ausgereicht, um alles das zu zerstören, was aus törichter Auffassung der Meinungen allmählich aufgebaut war".[14] Damit wandte Virchow sich sowohl aus grundsätzlichen wissenschaftlichen Erwägungen als auch aus politischen Gründen gegen die Vorstellung unveränderlicher nationaler "Wesenheiten" und gegen die Herstellung fragwürdiger Verbindungen wie der zwischen Körperbau und Sprache.

Seit dem späten 19. Jahrhundert konnte man archäologische "Argumente" für aktuelle Gebietsansprüche benutzen. So ließ sich die Annexion Elsaß-Lothringens 1870 "begründen", ein "deutscher Drang nach Osten" und ein "Recht" auf polnischen Boden "belegen" oder über den Charakter des Weichselgebietes als "urgermanisches" oder "urpolnisches" Land streiten.[15] Zur "hervorragend nationalen Wissenschaft" war die prähistorische Archäologie nicht nur in Deutschland geworden, und bis heute wird sie zur "Rechtfertigung" politischer Ansprüche instrumentalisiert.

III

Warum war und ist es so wichtig, "vorgeschichtliche Völker" zu bestimmen? Moderne Ausgrabungen geben Aufschluß darüber, wie die Menschen in verschiedenen Zeiten wirtschafteten, in welchen Häusern und Siedlungen sie lebten, welche Pflanzen sie anbauten und welche Tiere sie hielten, was sie aßen und wie sie das Essen zubereiteten, wie sie mit ihren Toten umgingen, an welchen Krankheiten sie litten, welche Handwerke sie betrieben und welche Rohstoffe sie benötigten, wie weit ihre Kontakte und Beziehungen reichten, welche Reichtumsunterschiede es gab - kurz, wie das alltägliche Leben aussah und wie die Menschen ihr Leben einrichteten.[18]

Der entscheidende Grund für die mitunter einseitige Fixierung der Archäologie auf "Völker" liegt wohl in den politischen Verhältnissen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Herausbildung der modernen Nationalstaaten in den Jahrzehnten um 1800 hatte ganz praktische Folgen. Alle Untertanen wurden nun erfaßt: in der Schule, im Militär, bei der Besteuerung, für Verwaltungszwecke. Unter diesen Gesichtspunkten erschienen alle Staatsbürger als gleich, eine wesentliche Forderung der französischen Revolution. Daß diese Sicht die erheblichen sozialen Differenzierungen innerhalb von Gesellschaften zudeckt, liegt auf der Hand.

Das Interesse für die Vergangenheit verstärkte sich um 1800 enorm. Verbreitete Unsicherheiten angesichts der spürbaren sozialen Umbrüche führten zu einem romantischen Blick zurück. Die Geschichte betrachtete man durch die "nationale Brille", ging es doch um die Geschichte des jeweils eigenen Volkes. Die "nationalen Vorfahren" dachte man sich ähnlich wie die eigenen, modernen politischen Verhältnisse - der Nationalstaat wurde gewissermaßen in die Vorgeschichte projiziert. Ein Volk mit einer Kultur, einer Sprache und gemeinsamer Abstammung lebte gewiß unter einheitlichen politischen Verhältnissen; anders schien es nicht vorstellbar. Damit ist aber nur das Idealbild eines modernen Nationalstaates beschrieben, wie zahlreiche bis heute andauernde Minderheitenkonflikte in ethnisch heterogenen Ländern zeigen. Dennoch besaßen und besitzen diese Idealbilder mächtige Wirkung. Der Zerfall von Vielvölkerstaaten (Österreich-Ungarn 1918, Sowjetunion 1991, Jugoslawien 1991/92, Tschechoslowakei 1992) und der Zulauf "nationaler Befreiungsbewegungen" belegen dies.

Wichtige Begriffe in der altertumskundlichen Diskussion waren Volk und Kultur, Sprache und Rasse. Man setzte voraus, daß diese vier Aspekte homogene und distinkte Einheiten wären sowie sich synchron und kongruent entwickelten (Abb. 3). Das Volk wurde "entdeckt", als sich Intellektuelle des sozialen Wandels und den damit einhergehenden Veränderung den Unterschichtenkultur bewußt wurden. Lieder und Märchen sollten aufgezeichnet und so vor dem anscheinend bevorstehenden Untergang bewahrt werden. Auf diese Weise entstanden zahlreiche neue Begriffe mit dem Präfix "Volk-": Volkslied, Volksmärchen, Volkssage, Volksmusik, Volksbuch usw. Das Interesse am Volk war hauptsächlich auf dreierlei Art begründet: 1. ästhetisch: das Volk schien ursprünglich, einfach und rein, nicht künstlich und klassizistisch zu sein; 2. intellektuell: archaische Mythen und Überlieferungen galten als der aufklärerischen Vernunft überlegen; 3. politisch: die Kultur des Volkes konnte zum Kern eines Nationalbewußtseins stilisiert werden. Die Romantik gelangte zu drei zentralen Thesen über die Volkskultur: 1. sie ist ursprünglich, d. h. sie stammt aus grauer Vorzeit; 2. es gibt eine kollektive Schöpferkraft ("Volksgeist"), "das Volk dichtet"; 3. die Volksseele ist rein und echt, nur die bäuerliche Landbevölkerung bewahrt noch die ursprünglichen Gebräuche.[19]

Abb. 3. Vielfalt jungneolithischer "Kulturen" in Europa ("Periode III: Becher- und Streitaxtkulturen"). Die Kartierung zeigt geradezu einen "Flickenteppich" kultureller Regionalgruppen. Childe versuchte mit dieser und weiteren kartographischen Darstellungen, die regionale Vielfalt der archäologischen Funde des Neolithikums in ein klassifikatorisches System zu bringen. Die dabei entstehenden Abgrenzungen bilden dabei begründete und hilfreiche wissenschaftliche "Konstruktionen" innerhalb eines kulturellen Kontinuums. Überschneidungen weisen darauf hin, daß wechselseitige "Einflüsse" eine klare Trennung unmöglich machen. "Weiße Flecken" belegen meist keine Siedlungsleere, sondern unsichere Zuordnungen aufgrund zu weniger charakteristischer Typen(kombinationen). Eine solche Kartierung kann nicht prähistorische "Wir-Gruppen"
darstellen, sondern lediglich eine zeitliche und räumliche Ordnung in das archäologische Material bringen.

Herder und Hegel prägten die Vorstellungen vom "Volksgeist", der das "Wesen" aller zu beobachtenden Erscheinungen ausmache, der einerseits ewig und andererseits historisch spezifisch sei. An solchen Vorstellungen richteten sich bedeutende historische Werke aus - von Humboldt über Ranke bis zu Burckhardt. Diese Ideen beeinflußten die altertumskundlichen Disziplinen, die sich alle im 19. Jahrhundert etablierten. Das "Volk" wurde zur zentralen Kategorie für Volkskunde, Prähistorie, Rechtsgeschichte, Philologie, Kunstgeschichte usw. - von den Gebrüdern Grimm maßgeblich bestimmt: "ein volk ist der inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache reden. das ist für uns Deutsche die unschuldigste und zugleich stolzeste erklärung, weil sie mit einmal über das gitter hinwegspringen und jetzt schon den blick auf eine näher oder ferner liegende, aber ich darf wohl sagen einmal unausbleiblich heranrückende zukunft lenken darf, wo alle schranken fallen und das natürliche gesetz anerkannt werden wird, dasz nicht flüsse, nicht berge völkerscheide bilden, sondern dasz einem volk, das über berge und ströme gedrungen ist, seine sprache allein die grenze setzen kann."[20]

Die enge Verbindung von Volk und Sprache führt uns hier zu einem weiteren Begriff - dem der Kultur, zu der auch die Sprache gezählt werden kann. Kultur schien ebenfalls "nationalspezifisch" zu sein.[21] Deutsche hatten "Kultur" im Sinne bildungsbürgerlicher und intellektueller Leistungen, Franzosen dagegen bloß "Zivilisation" im Sinne einer technisch und städtisch geprägten Welt. "Innere und unwandelbare, volkstümliche und ländliche Werte" der politisch zersplitterten "Kulturnation" standen gegen "Künstlichkeit" und "Verderbheit" der Grande Nation. "Kultur" im ethnologischen und prähistorischen Sprachgebrauch geht vor allem auf den Dresdner Bibliothekar Gustav Friedrich Klemm (1802-1867) und den britischen Ethnologen Edward Byrnett Tylor (1832-1917) zurück. Der Begriff ließ sich regional oder zeitlich differenzieren. Für ersteres sprachen zahlreiche ethnologische Beobachtungen seit dem Zeitalter der Entdeckungen, letzteres folgte aus evolutionistischen Konzepten. Interessanterweise setzte sich die räumliche Sicht durch, die direkt auf "Völker" Bezug nahm.

Einflußreich war zunächst die ethnologische Kulturkreislehre, die von "Museumsmännern" und nicht von Feldforschern betrieben wurde. Das Bemühen um Ordnung der stark angewachsenen europäischen Museums­sammlungen lenkte den Blick auf einzelne, materielle "Kulturelemente", die sich kartieren ließen. Dieses an "Inventargeschichte" orientierte Kulturmodell bot sich für die Archäologie an, die auch das Hilfsmittel der Typenkarten übernahm. Räumliche Verbreitungen - und nicht der aus historischer Sicht so interessante zeitliche Wandel - rückten in den Vordergrund. Kossinna präsentierte seit den 1890er Jahren sein grobschlächtiges, auf angeblich "gründlich durchdachten" und "vielfach erprobten Methoden" beruhendes, tatsächlich aber nie belegtes Paradigma: "Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen".[22]

Während Kossinna mit einzelnen Typen und insofern mit einem atomistischen Kulturbegriff operierte, suchte Vere Gordon Childe (1892-1957) dem Kulturkonzept innere Stringenz zu verleihen (Abb. 4).[23] Die "regelhafte" Kombination von Kulturelementen aus "verschiedenen Lebensbereichen" wurde zum Kriterium der Geschlossenheit: "Such a complex of regularly associated traits we shall term a 'cultural group' or just a 'culture'. We assume that such a complex is the material expression of what would to-day be called a 'people'. Only when the complex in question is regularly and exclusively associated with skeletal remains of a specific physical type would we venture to replace 'people' by the term 'race'". Wenn hier auch der Bezug zu anthropologischen ("rassischen") Merkmalen nur vorsichtig angedeutet ist (und Childe später selbst davon Abstand nahm), ist damit auch die Anthropologie in das Konzept "ethnischer Interpretationen" einbezogen.

Alle vier Begriffe - ethnische Gruppe (Volk), archäologische Kultur, Sprache und "Rasse" - sind wissenschaftliche Klassifikationen, die die historische Wirklichkeit zu erfassen und zu ordnen suchen. Sie vereinfachen, indem ausgewählte Merkmale zur Beschreibung und Abgrenzung herangezogen werden. Von der Fragestellung hängen die Auswahl der zu berücksichtigenden Merkmale und damit auch das Ergebnis ab. Deshalb handelt es sich bei all diesen Gruppierungen weder um eine unmittelbare Widerspiegelung der Vergangenheit noch um homogene und distinkte Einheiten. Vielmehr werden mithilfe dieser Modelle Abschnitte aus einem größeren - räumlichen und zeitlichen - Kontinuum herausgetrennt, wobei jede Disziplin (Ethnologie, Archäologie, Linguistik, Anthropologie) eigene Quellen und Methoden verwendet. Deshalb gelangt auch jede zu spezifischen Ergebnissen, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Vergangenheit betreffen.

Abb. 4. Drei alternative Konzepte "archäologischer Kulturen". Zugrunde liegen jeweils unterschiedliche Auffassungen, wie Kulturen räumlich abzugrenzen sind. - Links: Kulturen werden als distinkt und homogen begriffen; sie stoßen wie Billardkugeln aneinander. Mitte: Kulturen besitzen einen Kern mit der größten Merkmalsdichte; zur Peripherie hin nehmen die charakteristischen Merkmale konzentrisch ab. Rechts: Kulturelemente sind sehr unterschiedlich verteilt; die Abgrenzung von archäologischen Kulturgruppen aus
diesem kulturellen Kontinuum bleibt eine wissenschaftliche Klassifikation.

Für das Konzept der "archäologischen Kultur" läßt sich dies anhand des "polythetischen Modells" David Leonhard Clarkes (1937-1976) veranschaulichen (Abb. 5). Es hängt von den berücksichtigten Merkmalen ab, wie weit sich eine "archäologische Kultur" räumlich und zeitlich erstreckte. Die Abgrenzung bleibt daher diffus, und die Kulturräume sind in sich heterogen. Keramikstile und Waffentypen, Bestattungs- und Schmuckformen, Wirtschaftsweise und Siedlung entwickeln sich unterschiedlich und in Grenzen unabhängig voneinander - in diversen Rhythmen und Regionen. Die gebräuchlichen differenzierten Stufengliederungen und veränderlichen Verbreitungsbilder verdeutlichen, daß damit ein ständiger kultureller Wandel beschrieben und nicht stabile Einheiten erfaßt werden. Die Kartierung "archäologischer Kulturen" suggeriert eine geschlossene Verbreitung und verdeckt die Dynamik kultureller (und sozialer) Entwicklungen. Die Kategorisierung als "archäologische Kultur" ist lediglich ein beschreibender Ordnungsbegriff zur Aufbereitung des Fundmaterials. Deshalb ist "aus heuristischen Gründen ... die 'reale Existenz von Kulturen' in Abrede [zu] stellen".[25] D. h., "daß archäologische Kulturen nicht 'vorgefunden', sondern geschaffen werden und oft mehr über 'innere geistig-kulturelle Zusammenhänge' ihrer Bearbeiter als über eine wie auch immer geartete einstige Realität aussagen".

Abb. 5. Unterschiedliche soziale Zugehörigkeiten eines frühgeschichtlichen Familienoberhauptes. Die Auswahl an möglichen "Identitäten" zeigt, wie wenig eindeutig Grabbefunde sind. Ausstattung des Toten und Beigaben können und müssen sehr unterschiedliche Zugehörigkeiten, d. h. Positionen in der Gesellschaft, ausdrücken. Da die hinterbliebene Familie die Bestattung ausrichtet, spiegelt das Grab vor allem ihre
Vorstellungen und Absichten wider - und indirekt auch die Erwartungen der Gesellschaft.

IV

"Ethnien" werden wie andere soziale Gruppen durch eine "kollektive Identität" zusammengehalten. Obwohl "Identität" eigentlich Übereinstimmung und Gleichheit bedeutet, bleibt dies bei "kollektiven Identitäten" eine Behauptung. Denn soziale Gruppen sind nicht homogen - sie bestehen nicht aus identischen, sondern vielen recht unterschiedlichen Individuen. Begriff und Vorstellung kollektiver Identität decken diese Heterogenität zu, indem auf wenige, vordergründig übereinstimmende Merkmale Bezug genommen wird.

Ethnische Identitäten sind subjektive Selbst-Zuordnungen von Individuen zu einer ethnischen Gruppe. In die Mitgliedschaft werden bestimmte Personen einbezogen und damit andere zugleich ausgeschlossen. Nur angesichts der "Anderen" läßt sich ein Selbstverständnis gewinnen. Die "Anderen" sind der Spiegel, in dem man sich selbst erkennt. Identität ist "eine Sache von Wissen, Bewußtsein und Reflexion".[27] Die bewußte "Steigerung" der Wahrnehmung von Differenzen wirkt - angesichts sozial, politisch, kulturell, religiös und ethnisch heterogener Gesellschaften - integrativ nach innen und abgrenzend nach außen.

Ethnische Gruppen definieren sich selbst über den Glauben an gemeinsame Herkunft und Geschichte, an gemeinsame "Sitten und Bräuche" (oder Traditionen), an die gemeinsam gesprochene Sprache, an das nur hier geltende Recht, an die hiesigen religiösen Vorstellungen und an die gemeinsame Abstammung.[28] Dieser "Gemeinsamkeitsglauben" ist eine subjektiv geglaubte Schematisierung. Einerseits können es nur wenige Merkmale sein, die eine in sich stets erheblich differenzierte Gesellschaft nach außen hin abgrenzen können. Andererseits gibt es immer viele Übereinstimmungen mit den Nachbargesellschaften, die eine ethnische Grenzziehung ausblenden muß. Die benutzten Merkmale sind daher nicht objektiv vorgegeben, sondern ausgewählt und "erfunden", um (in bestimmten Situationen) soziale Grenzen ziehen oder aufrechterhalten zu können. Ethnische Identität ist das kollektive Bewußtsein der kulturell (sowie sprachlich oder religiös) definierten Zugehörigkeit zu einer politisch und sozial bestimmten Gesellschaft. Die komplizierte Wirklichkeit wird dabei meist stark vereinfacht.

Soziale Eliten fungieren häufig als "Identitätskerne", indem die von ihnen getragenen Traditionen zentrale Bedeutung für die Identität der Gruppe gewinnen. Ethnische Identitäten besitzen deshalb nicht nur in räumlicher oder territorialer Hinsicht eine zur Peripherie hin abnehmende "Dichte", sondern auch in Bezug auf die soziale Hierarchie. Ethnische Identität wird von den "Hütern" des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft bestimmt. Mit abnehmendem Prestige geht auch die Bindung an die Gruppenidentität zurück, so daß ethnisches Bewußtsein auf die Elite(n) beschränkt sein kann und von dieser repräsentiert wird. Im Alltag der meisten Menschen wird ethnische Zugehörigkeit kaum relevant. Für sie waren "in erster Linie Heiratsklassen, Altersklassen, sozioprofessionelle Gruppen, Verwandtschaftslinien oder Lokalgruppen" wichtig.[30] Jedermann ist "Mitglied" verschiedener sozialer Gruppen, die in unterschiedlichen Situationen wichtig werden und die deshalb eine Art "Rollenspiel" der Individuen erfordern (Abb. 5).

Im Gegensatz zu romantischen und nationalistischen Vorstellungen sind ethnische Gruppen durch innere Vielfalt und diffuse äußere Abgrenzungen, durch Flexibilität und ständigen Wandel gekennzeichnet. Sie sind nicht mit Hilfe einfacher und eindeutiger Merkmale zu beschreiben, so "daß es gerade das, was der Ethnographie den Namen gegeben hat, eigentlich nicht gibt, nämlich 'Völker'".[31] "Wenn wir Nationen, Gesellschaften oder Kulturen als nach innen homogene und nach außen isolierte, ausgestanzte Objekte ausgeben, entsteht ein Modell von Welt, das einem globalen Billardtisch gleicht, auf dem die einzelnen Kulturkreise wie harte, runde Billardkugeln aneinanderklacken und sich gegenseitig in Bewegung setzen."[32] Von diesem unzutreffenden Modell homogener und distinkter Gruppen muß deshalb Abschied genommen werden.

V

"Ethnische Interpretationen" in der Archäologie setzen homogene und distinkte Gruppen voraus. Täten sie das nicht und nähmen z. B. flexible und wechselnde Gruppierungen an, gäbe es praktisch keine Möglichkeit der Identifizierung. Denn nur wenn es eine eindeutige Beziehung zwischen ethnischer Identität und Sachkultur gab, die alle Angehörigen einer Gesellschaft erfaßte, läßt sich vom einen auf das andere schließen. Unter dieser - kaum haltbaren - Prämisse sieht das methodische Vorgehen folgendermaßen aus (Abb. 6). Ausgangspunkt jeder "ethnischen Interpretation" ist die Identifizierung von "Ethnos" und "Kultur" - zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum. Kontinuitäten zu chronologisch älteren "Kulturen" werden als "ethnische Kontinuitäten" interpretiert. Deutliche kulturelle Brüche können als Zeitpunkt einer "Ethnogenese" verstanden werden. In umgekehrter Richtung, zeitlich voranschreitend, lassen sich Wanderungen und "Expansionen" verfolgen, bis man zur Feststellung von "Fremden" und "Minderheiten" in einem anderen kulturellen Milieu gelangt. Ob zur Identifizierung eine komplette "archä­ologische Kultur", einige ausgewählte Kulturelemente ("Kulturmodell") oder nur ein einzelnes Merkmal herangezogen werden, ist dabei eine eher pragmatische als grundsätzlich diskutierte Frage.

Abb. 6. Systematik der "ethnischen Deutung". Die Vielzahl der Versuche, archäologisches Material "ethnisch" zu interpretieren, läßt sich auf fünf Grundmuster zurückführen. Den Ausgangspunkt bildet die Gleichsetzung von Kultur und Ethnos. Von dort aus gelangt man über Kontinuitäten zu Ethnogenesen bzw. in
umgekehrter zeitlicher Richtung über Wanderungen zur Ermittlung von Fremden.

Dieses Fünf-Phasen-Schema sieht sich gravierenden methodischen Problemen gegenüber.[33] Welche kulturellen Merkmale waren für "ethnische Identitäten" relevant und erlauben daher die Abgrenzung der jeweiligen Siedlungsräume? Wie läßt sich zwischen ethnischer Kontinuität und Siedlungskontinuität unterscheiden (Abb. 7), denn letztere gab es überall in Europa seit dem Beginn der Jungsteinzeit. Wie deutlich muß ein Wandel der Sachkultur ausfallen, um als Ethnogenese angesehen werden zu können? Wie kann begründet zwischen Austauschbeziehungen und der Wanderung größerer Gruppen von Menschen unterschieden werden? Wann handelt es sich um "Fremde" in einer anderen kulturellen Umgebung, und wann haben "Einheimische" sich "fremder", exotischer Stücke, aus welchen Gründen auch immer, bedient? Entgegen verbreiteten Ansichten sind diese methodischen Probleme ungelöst, denn es gibt keine universalen Regeln, mit deren Hilfe eindeutige Beurteilungen unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext möglich wären.

Das heuristische Dilemma besteht darin, daß ethnische Gruppen Identitätsgruppen sind.[34] Sie werden durch die Vorstellung gemeinsamer Kultur und Abstammung zusammengehalten. Die symbolische Abgrenzung zu den Nachbarn kann sich auf materielle Zeichen - aber auch auf Verhalten und Habitus stützen. Die Archäologie müßte daher versuchen, diese (möglichen) Zeichen ethnischer Zugehörigkeit zu identifizieren. Da Symbole jedoch prinzipiell "willkürlich" gewählt werden können, d. h. Elemente von Sprachstilen, Bildungsstrategien und -zielen, der Umgangsformen oder Kommunikationsweisen - aber auch Elemente der Kleidung (Fibeln, Stoffe, Farben, Muster, Kleidungsschnitt, Kopfbedeckungen, Schmuck, Frisuren, Bärte) - wichtig werden können, gibt es keinen universalen Zugang. Es bedarf zusätzlicher Informationen, die allein aus literarischen Quellen gewonnen werden können. Diesen haftet jedoch prinzipiell der Nachteil an, daß sie der Außensicht fremder Beobachter entstammen und damit allein deren Blickwinkel und nicht das Selbstbild der Beschriebenen repräsentieren. Tacitus (Germania 38,1-3) beispielsweise erwähnt den Haarknoten der Sueben, die sich dadurch von anderen Germanen unterschieden hätten. Junge Männer bei den Nachbarn der Sueben banden sich das Haar bald ebenso, um an dessen Prestige teilzuhaben - der "Suebenknoten" war unversehens zu einem Symbol sozialer Zugehörigkeit geworden, wie Tacitus bestätigt (Abb. 8).

Abb. 7. Schematisierte Beziehungen zwischen "archäologischen Kulturen" in Osteuropa zwischen Eisenzeit und frühem Mittelalter. Die diffusen Wechselwirkungen lassen es aussichtslos erscheinen, die entscheidende kulturelle oder ethnische "Wurzel" der Slawen vor den ersten byzantinischen Nachrichten ausfindig machen zu wollen. Ausschlaggebend waren Neuformierungen im 5./6. Jahrhundert, die vielfältige kulturelle Einflüsse "verarbeiteten". Anderenfalls bereitet es Schwierigkeiten, "Traditionsstränge" zur meist als "gotisch" angesehenen Wielbark- und Černjachov-Kultur oder zur "germanischen" Jastorf- und zur "keltischen" Latène-
Kultur zu erklären. Mehr als allgemeine kulturelle "Beziehungen" können daraus kaum gefolgert werden.

Abb. 8. Eine der vier Attachen eines bronzenen Kessels aus einem "Häuptlingsgrab" der Zeit um 200 in Musov (Mähren). Die Darstellung zeigt einen bärtigen Barbarenkopf, dessen Haar an einer Seite zu einem Knoten gebunden ist. Damit erinnert der Kopf an Tacitus' Beschreibung des suebischen Haarknotens, der eine
  soziale Elite kennzeichnete.

Ebenso verhält es sich mit einer Reihe weiterer Zeichen, die antike und mittelalterliche Autoren als Symbole ethnischer Identität erwähnten.[35] Die Franken kennzeichnete angeblich die Franziska, eine (im Übrigen weit verbreitete) Wurfaxt (Abb. 9) , und die Sachsen kämpften mit dem (Scrama-) Sax, der typischen Waffe des 7. Jahrhunderts in ganz Mittel- und Westeuropa. In beiden Fällen stammen die Beschreibungen von Autoren, die erst viel später davon berichteten: Isidor von Sevilla (Etymologiae XVIII,6,9) im 7. und Widukind von Corvey (Res gestae saxonicae I,6-7) im 10. Jahrhundert, so daß der Wahrheitsgehalt dieser Aussagen unklar bleibt. Die Langobarden hatten angeblich lange Bärte (Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I,7-10 - ebenfalls mit erheblichem zeitlichen Abstand), doch gehörten lange Bärte zum Kennzeichen aller Barbaren, und sie charakterisierten auch griechische Philosophen und römische Kaiser, schließlich sogar Christus und die Apostel. Herausgehobene Krieger bei den Kelten trugen einen schweren Metallring um den Hals, den Torques, doch kannte man diesen auch von Persern und Medern; der Torques war schließlich auch ein (seltenes) Göttinnen-Attribut bei Griechen, Etruskern und Römern sowie ein militärisches Ehrenzeichen in Rom.

Abb. 9. Verbreitung der sogenannten "Franzisken". Äxte waren in der frühen Merowingerzeit eine verbreitete Waffe. Ob sich die von der Archäologie als "Franziska" bezeichneten Äxte mit den u. a. bei Isidor von Sevilla beschriebenen franciscae verbinden lassen, ist umstritten. Typisch allein für die Franken waren Äxte jedenfalls nicht. Ein großes Symbol bezeichnet Fundorte mit mehr als neun Exemplaren, ein mittelgroßes
Symbol drei bis neun und ein kleines Symbol ein bis zwei Exemplar.

Die Beispiele zeigen, daß selbst die historisch bekannten Symbole nicht eindeutig sind. Sie konnten verschiedene Zugehörigkeiten ausdrücken, so daß es auf die jeweilige Situation ankam. Doch dieser Kontext läßt sich aus dem archäologischen Material wohl nicht erschließen. Hinzukommt, daß verschiedene Gruppen auf diese Weise "identifiziert" werden sollen. Nur selten sind es "ethnische Gruppen" im eigentlichen Sinne - "Stämme", wie sie die Ethnologie früher nannte. Kelten, Germanen und Slawen sind von der Wissenschaft linguistisch definierte Großgruppen, die nie ein Bewußtsein ethnisch-politischer Zusammengehörigkeit besaßen. Beschreibungen antiker bzw. frühmittelalterlicher "Ethnographen" verfuhren großräumig kategorisierend, indem sie alle "Barbaren" unter einer Bezeichnung zusammenfaßten. Deshalb verwundert es nicht, daß eindeutige Verbindungen mit eisenzeitlichen, kaiserzeitlichen bzw. frühmittelalterlichen "archäologischen Kulturen" mißlingen. Viel zu großräumig und schematisch sind Zuordnungen, als daß sie in den Bodenfunden wiedergefunden werden könnten.

VI.

Grundsätzliche methodische Überlegungen zur Aussagekraft archäologischer Quellen und eine kritische Überprüfung vorliegender Versuche "ethnischer Interpretation" verweisen auf prinzipielle methodische Probleme. Der Versuch, aus Bodenfunden "ein vorgeschichtliches Volk zu bestimmen", überfordert die Möglichkeiten der Archäologie. Denn diese Fragestellung ist nicht aus dem Material entwickelt, sondern von außen an die prähistorische Forschung herangetragen worden. Doch nur den Quellen und deren Aussagekraft jeweils angemessene Fragen erlauben verläßliche Antworten. Unterschiedliche "altertumskundliche" Disziplinen - neben der Archäologie vor allem Historiographie, Linguistik und Anthropologie (sowie weitere Naturwissenschaften) - gestatten mithilfe ihrer spezifischen Quellen unterschiedliche Blickwinkel auf dieselbe Vergangenheit. Die Aussagen der Quellen ergänzen sich dabei eher, als daß sie sich gegenseitig bestätigen oder widerlegen. Unser Bild wird dadurch bunter und vielfältiger als früher angenommen - und damit wohl auch realistischer.

Welche Alternativen gibt es für die historische Interpretation archäologischen Funde und Befunde? Die Furcht, ohne "ethnische Interpretation" verlöre die Archäologie ihren Charakter als historische Wissenschaft, sind unbegründet. Seit langem ist die Geschichte der Politik (Personen, Staaten, Ereignisse) nur ein Teilbereich der Historiographie - neben Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. Die Kompetenzen der Archäologie liegen gerade in diesen Feldern, in denen sie eigenständige, durch andere als archäologische Quellen nicht zu erbringende Aufschlüsse liefert. Nicht einmalige Ereignisse und konkrete Vorstellungen der Zeitgenossen schlagen sich in den Bodenfunden nieder. Es sind die längerfristigen historischen Veränderungen, die deutliche Spuren im Boden hinterlassen haben - und die die Rahmenbedingungen ethnisch-politischer Entwicklungen darstellten. Dem Modell Fernand Braudels (1902-1985) zufolge[37] handelt es sich um strukturelle Wandlungen - mittelfristig-konjunkturelle und langfristige Veränderungen der longue durée. Mit einer strukturellen Perspektive wird auch der zeitliche Wandel wieder stärker berücksichtigt, geraten "archäologische Kulturen" ungeachtet ihrer chronologischen Abgrenzung doch meist geographisch orientiert und in zeitlicher Hinsicht statisch.

Ein globales, auf unterschiedliche historische Zusammenhänge "passendes" Modell wie das "ethnische Paradigma" müßte, wollte man es als methodische Alternative formulieren, ebenso scheitern. Es kann für historische Entwicklungen keine universalen Erklärungen geben; es bedarf dem jeweiligen "Einzelfall" und dessen Quellenlage angemessener Interpretationen. Es liegt in der "Natur" archäologischer Funde, daß sie primär durch Vergleich zu erreichende, strukturgeschichtliche oder kulturanthropologische anstelle historistischer Aussagen ermöglichen.[38] Zu "Identitäten" bzw. der Vorstellungswelt gibt es ohne Selbstzeugnisse keinen Zugang.

Zusammenfassung

Nach wie vor wird der Versuch, ethnische Gruppen im archäologischen Material zu identifizieren, als wichtige Aufgabe der Archäologie angesehen. Diese Fragestellung entstammt den nationalen Vorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die Kultur und Sprache sowie schließlich auch anthropologische Merkmale ("Rasse") als "nationalspezifisch" ansahen. Diese Kategorien verstand man als kongruente, nach innen homogene und nach außen scharf abgrenzbare "Einheiten". Kollektive Identitäten sind nach heutiger Auffassung der flexible "Gemeinsamkeitsglauben" (Max Weber), der soziale Gruppen und Ethnien konstituiert. Die Vorstellung gemeinsamer Herkunft, Tradition und Sprache benutzt symbolische Merkmale, um sich von Nachbargesellschaften abzugrenzen. Diese Zeichen kann die Archäologie lediglich in Ausnahmefällen identifizieren, weil ihr der Kontext verborgen bleibt. Ihre Aufmerksamkeit muß sich auf längerfristige, strukturelle Veränderungen richten, um der spezifischen Aussagekraft ihrer Quellen gerecht zu werden.

Abbildungsnachweis:

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Manfred K. H. Eggert, Prähistorische Archäologie. Konzepte und Methoden (Tübingen, Basel 2001).


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