Was ist Gestalttherapie?
Mit fast derselben Frage beginnt ein Kapitel des letzten Buches von Fritz Perls, einem der Begründer dieses psychotherapeutischen Verfahrens, und seine ersten Sätze sind:
Die Idee der Gestalttherapie ist es, aus Papiermenschen wirk 19519x232t liche Menschen zu machen. Ich weiß, ich nehme den Mund ziemlich voll. Es ist die Idee, den ganzen Menschen unserer Zeit zum Leben zu erwecken und ihn zu lehren, wie er seine inneren Kräfte nutzen kann, um ein Führer zu sein, ohne ein Rebell zu werden, eine Mitte zu haben und nicht Hals über Kopf zu leben.1)
Nicht übel, oder? Aber er führt auch gleichzeitig ein ernüchterndes
Gegengewicht ein, indem er paar Sätze weiter behauptet, daß sich das
gesellschaftliche Milieu zum Hedonismus hin gewandelt habe, und wir anfingen,
dem Vergnügen, dem Genuß und dem Rausch zu leben. Dies sei ein ernsthafter
Rückfall, weil es zur krankhaften Angst vor Schmerz
und
Eine Frage des Kontakts
In der Gestalttherapie
geht es darum, a
l l e n Erscheinungen des Lebendigen
gegenüber offen zu sein. Idealerweise stellt sich ein Mensch sowohl seiner
eigenen Innenwelt als auch der Begegnung mit anderen
Menschen und seiner Umwelt. Die Begegnung soll exakt an
der Grenze zum anderen stattfinden. Dieser Berührung oder
Verbindung an der Grenze, dem Kontakt, mißt die Gestalttherapie zentrale
Bedeutung bei. Im Kontakt zu sein mit sich selbst oder
dem Umfeld, ermöglicht neue, nicht vorherbestimmbare Situationen, die Chancen
wie Risiken in sich
Eine Frage der Wahrnehmung
Kontakt setzt die
Bereitschaft und Fähigkeit zur Unterscheidung voraus: etwas kann nur dann anders sein, wenn es entweder im Vergleich zu etwas anderem
deutlich abgegrenzt ist oder sich deutlich als Figur/Gestalt von einem
Hintergrund abhebt. Ich kann
Eine Frage des Hier und Jetzt
Wahrnehmung
kann nur in der Gegenwart stattfinden. Ich kann
Eine Frage des Schließens von Gestalten
Durch dieses Nachspüren, Wahrnehmen, Erforschen können die Verästelungen im Hintergrund zutage treten, zu denen natürlich auch die Lebensgeschichte eines Menschen gehört, die Erfahrungen, die er gemacht hat und die Überzeugungen, die er daraus abgeleitet hat. Manche dieser Erfahrungen sind selbst in der Gegenwart noch peinigend. Und nicht nur schmerzliche Momente können das gegenwärtige Verhalten bestimmen, sondern auch glückliche Erlebnisse oder sehr hohe Erwartungen kann man in so strahlenden Farben leuchten lassen, daß die reale Gegenwart daneben zu Grau verschwimmt. Beide Varianten führen dazu, daß die Lebendigkeit gedämpft, die schöpferische Anpassung erschwert und die Kontaktfähigkeit eingeschränkt wird. In solchen Fällen wird in der Gestalttherapie von "unerledigten Situationen" geredet. Das Pendant dazu wäre in der Umgangssprache "die Leiche im Keller". Diese "unerledigten Geschäfte", die nicht oder nicht vollständig verarbeiteten und abgeschlossenen Erlebnisse und Erfahrungen, binden Energie und Kraft. Diese Energie fehlt im Kontakt, und sie kann nicht für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse eingesetzt werden. Die Folge ist, daß real existierende Möglichkeiten nicht gesehen oder genutzt werden können, Lösungen nur schwer zu finden sind oder nur widerwillig angegangen werden. Gestalttherapeutische Arbeit dient also dazu, unerledigte Geschäfte abzuschließen bzw. - um einen Gestaltbegriff zu verwenden - "die Gestalt zu schließen". Die vollständige Gestalt kann dann im Hintergrund verschwinden, die darin gebundene Energie ist freigesetzt und kann dem bewußten Erleben und Handeln zugeführt werden. Eine "offene Gestalt" ist also im "Hier und Jetzt" erlebbar und kann geschlossen werden. Der blockierte Organismus wird so wieder in Kontakt mit dem Fluß der Lebensenergie gebracht.
Eine Frage der organismischen Selbstregulation
Gestalttherapie versteht den Menschen als Ganzheit, als Organismus, der untrennbar, unteilbar mit seinem Umfeld, seiner Umwelt verbunden ist. Er braucht die Fähigkeit zur Begegnung, zum unmittelbaren Erleben von Gefühlen, um auf bestmögliche Weise zu überleben. Dazu gehört, daß er seine Bedürfnisse wahrnimmt und die notwendigen Schritte zu ihrer Befriedigung einleitet. Dazu gehört auch die Bereitschaft, den eigenen Erfahrungsschatz zu bereichern. Gestalttherapie geht von der Existenz eines Selbst jenseits von Rollen und Schablonen aus, das zur Regulation in der Lage ist, organismische Selbstregulation genannt. Regulation ist ein Begriff aus der Biologie und meint die Regelung der Organsysteme eines lebendigen Körpers durch verschiedene Steuerungseinrichtungen bzw. die Anpassung eines Lebewesens an Störungen. In der Gestalttherapie wird er im selben Sinne verwandt, aber auf die geistige, die psychische Ebene ausgedehnt, da Geist oder Seele und Körper als untrennbare Einheit gesehen werden, als nicht teilbares Ganzes.
Eine Frage der Selbstbestimmung
Organismische
Selbstregulation setzt Emanzipation und Selbstbestimmung voraus; ein abhängiges
System kann sich nicht selbst steuern, sondern wird gesteuert. Jede Form der Abhängigkeit und Bevormundung
setzt folglich die Fähigkeit zur Selbstregulation herab. Damit haben wir die
gesellschaftliche Dimension der Gestalttherapie zu fassen - ihre Sprengkraft
und Konfliktträchtigkeit. Gestalttherapie bezieht gesellschaftliche
Verhältnisse ausdrücklich mit ein und nicht nur implizit durch die Einführung
des Feldbegriffes. Die politische Ausrichtung in der Gestalttherapie reicht
allerdings von anarchistischen Grundsätzen bis zu
konservativen Überzeugungen, agnostische, religiöse und atheistische Haltungen
mit eingeschlossen. Diese Bandbreite resultiert u.a. daraus,
daß Abhängigkeit und Selbstbestimmung auf vielfältige Weise definiert werden
können.
Keine Frage des Glücks
Ziel gestattherapeutischer Bemühungen ist nicht Glück. Zwar laufen ihm die meisten von uns ständig hinterher - ich kenne diesen Massenansturm aus Teilnehmersicht bestens - und manch einer glaubt gar, ein Recht darauf zu haben. Das hat aber trotz aller gegenteiligen Behauptungen bis heute nichts an dessen Flüchtigkeit (der des Glücks) geändert. Glücksmomente setzen voraus, daß man das Gegenteil kennt, sonst kann man überhaupt keinen Unterschied fühlen, also auch nicht glücklich sein. Und Glück ist in höchstem Maße persönlich, so persönlich, daß fast jeder Mensch eine ganz eigene Vorstellung davon hat, die sich fast nie vollständig mit den Vorstellungen anderer Menschen deckt. Ein Umstand, der immer für einen Konflikt in persönlichen Beziehungen taugt, und eine schmerzliche Erfahrung, die jeder macht, der sich auf eine Liebesbeziehung einläßt. Lernen ist ohne Frustration nicht zu bewerkstelligen, es muß immer Zeit und Mühe dafür aufgewendet werden; es ist auch nicht vermeidbar, sich dabei zuweilen dumm vorzukommen. Wir vergessen häufig, daß wir Jahre gebraucht haben, bis wir uns einen Überblick darüber verschafft hatten, was wir mit unserer Zunge alles anstellen können - mancher hat durch das Verfeinern dieser Fertigkeiten sogar ein Lebenswerk geschaffen.
Aber hier und jetzt das Happy-End: es ist durchaus beglückend, sich lebendig zu fühlen - selbst wenn's manchmal weh tut. Das Selbstvertrauen zu haben, daß man sich dem Leben mit all seinen Facetten stellen kann, verschafft einem auch dann Befriedigung, wenn man gerade kein gutes Blatt auf der Hand hat - man spielt trotzdem nach allen Regeln der Kunst zu Ende. In diesem Sinne geht Gestalttherapie über ein psychotherapeutisches Verfahren weit hinaus und wird zu einer Haltung, zur Lebensart - und zu einer Methode, die ihre Alltagstauglichkeit in allen Lebenslagen unter Beweis stellen muß.
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